Janosch ist 27, arbeitet in einem Verlag und hat Depression. Bei der Psychotherapiesuche hatte er Glück: Schon nach zwei Monaten hatte er einen Therapeuten gefunden. Dieser bot ihm direkt nach dem Erstgespräch einen freien Platz an. Das ist jedoch bei weitem nicht der Normalfall. Durchschnittlich vier Monate wartet man in Deutschland auf einen Therapieplatz. Viele Betroffene berichten sogar von Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten.

In Leipzig sei die Lage besonders schlimm, so Antje Orgass von der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK) im Gespräch mit der Leipziger Zeitung (LZ). Seit 2017 müssen niedergelassene Psychotherapeut*innen zwar verpflichtend Erstgespräche innerhalb von vier Wochen anbieten. Diese dienen zur ersten Einschätzung der Lage. Eine Garantie für einen Therapieplatz sind sie jedoch nicht.

Besonders schwer war es für Janosch, sich überhaupt auf die Suche zu machen. Denn er leidet schon lange an Erschöpfung, sozialen Ängsten und Schlafstörungen. Schon Rausgehen oder einen Anruf zu machen sei da an manchen Tagen eine nicht zu bewältigende Herausforderung.

So gehe es vielen, erzählt auch Antje Orgass. Psychisch Erkrankte hätten es besonders schwer, ins Versorgungssystem zu kommen. Gerade Menschen, die aus psychiatrischen Kliniken kommen und eine ambulante Versorgung suchen oder Personen, die Dolmetscher*innen brauchen, müssen hier viele zusätzliche Barrieren überwinden.

Warum die Lage gerade in Leipzig so schlimm sei, wissen weder die OPK noch die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Seit Neuestem bieten auch das Uniklinikum und das St. Georg Erstgespräche an. Ob diese Information stimmt, konnte bei beiden Informationen nicht überprüft werden: denn die telefonischen Sprechzeiten waren kurz und ich kam nicht durch.

Lange Wartezeiten können die Situation verschlimmern

Lange Wartezeiten sind ein Problem, denn sie erhöhen das Risiko für eine Verschlimmerung oder Chronifizierung psychischer Erkrankungen. Das hat unter anderem die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) immer wieder angemahnt. Außerdem geben einige die Suche wegen der langen Wartezeit wieder auf. Auch die Corona-Pandemie erhöhte die psychische Gefährdungslage für viele Bevölkerungsgruppen. Laut BptK zeigen epidemiologische Studien, dass sich der Bedarf an Psychotherapie in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt habe.

Auch für Janosch könnte das Spiel von Neuem beginnen. Denn in den letzten Therapieasitzungen kam die Frage auf, ob anstatt Verhaltenstherapie nicht eine tiefenpsychologische Methode angebrachter wäre. Ein Therapiewechsel aufgrund der Art oder auch der Beziehung zum Therapeuten kann entscheidend sein für den Therapieverlauf. Ob Janosch sich die Suche jedoch nochmal zutraut, weiß er noch nicht.

Fehlende Kassensitze sind das Problem

Das Problem liegt nicht bei fehlenden Therapeut*innen, denn im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen herrscht hier kein Fachkräftemangel. Es fehlt an Kassensitzen. Denn Kassensitze sind begrenzt. Nur soundsoviel Prozent der approbierten Therapeut*innen haben einen Kassensitz.
Dabei hat nach Informationen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) die Zahl der Zulassungsmöglichkeiten zugenommen. 2012 gab es 21.756 Kassensitze in der Psychotherapie, 2022 sind es bundesweit 24.997.

Die Zahl der psychologischen Psychotherapeut*innen deutschlandweit mit ganzem oder geteiltem Kassensitz lag 2021 bei rund 31 300. Das Statistische Bundesamt meldete im selben Jahr 48.000 psychologische Psychotherapeut*innen in Deutschland: 17 000 Therapeut*innen hatten dementsprechend keinen Kassensitz.
In Leipzig kam 2022 durchschnittlich ein Psychotherapeut mit Kassensitz in Vollzeit auf 2.608 Einwohner*innen. Damit liegt Leipzig, wie viele Städte, am oberen Ende der Leiter. Das Stadt-Land-Gefälle ist jedoch massiv: Im Kreis Leipziger Land kommt gerade mal 1 Vollzeit-Therapeut auf mehr als 5.400 Einwohner, in Delitzsch ist es einer auf mehr als 4.900 Einwohner*innen.

Besonders unter dem Mangel leiden auch marginalisierte Gruppen. So zum Beispiel Menschen, die struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, wie Frauen, schwarze Menschen und People of Colour oder queere Personen. Die Wahl ihrer Therapeut*innen bestimmt sich oft nach dem Kriterium: Haben andere Menschen diskriminierungsarme Erfahrungen mit dieser Person schon gemacht. Das schränkt die Auswahl der Therapeut*innen erheblich ein. Laut Antje Orgass seien das Themen, in die sich viele Kolleg*innen erst einarbeiten müssten.

Warum sind die Kassensitze begrenzt?

Die Zahl der Kassensitze in einer Region wird vom Bundesausschuss (G-BA) in der sogenannten Bedarfsplanung festgelegt. Als höchstes Gremium im deutschen Gesundheitswesen soll dieser einen bundesweit bedarfsorientierten und gleichmäßigen Zugang der gesetzlich Versicherten zur Gesundheitsversorgung gewährleisten.

Dabei erstellen auf regionaler Ebene die Kassenärztlichen Vereinigungen sogenannte Bedarfspläne, um die lokalen Bedarfe zu berücksichtigen. Diese Bedarfspläne werden auf Grundlage der Bedarfsplanungs-Richtlinie erstellt. Auf Basis dieser Bedarfspläne treffen dann die Landesausschüsse der Ärzteschaft und Krankenkassen Beschlüsse zur Steuerung der konkreten Versorgungssituation vor Ort. Der G-BA entscheidet dann schlussendlich über die Schaffung neuer Kassensitze.

Die Bedarfsplanung soll damit laut der Webseite des G-BA Über- oder Unterversorgung entgegenwirken. Der BPtK hatte jedoch mehrfach kritisiert, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sich der Schaffung neuer Kassensitze entgegengestellt hatten. So seien auf Wirken der GKV bei der Sitzung des G-BA 2019 anstatt den laut Gutachten notwendigen 2.400 Sitzen nur 800 neue Sitze beschlossen worden. Laut Antje Orgass liegt es am fehlenden Geld. Man müsse endlich die Töpfe für Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendtherapeut*innen voneinander trennen, damit nicht die Argumentation nicht immer sei, dass die wachsende Zahl der Psychotherapeut*innen den Ärzt*innen das Geld wegnehme.

Einen Kassensitz bekommt man nur, indem man sich auf einen freien Sitz bewirbt oder einem Kollegen die Praxis abkauft. Rund 100 Bewerbungen gibt es laut Antje Orgass von der OPK pro freiem Kassenplatz im Osten. Eine Praxis von einem Kollegen zu übernehmen, kostet oft bis zu 50.000 Euro. Es werde immer mehr zum Trend, dass sich zwei Therapeut*innen einen Sitz teilen und dann nur einen halben Sitz hätten, so Antje Orgass.

Für junge Psychotherapeut*innen bedeutet das oft eine lange Wartezeit auf einen freien Kassensitz. In dieser Zeit können sie nur diejenigen behandeln, die privat versichert sind oder selbst zahlen. Auch gesetzlich Versicherte können bei einem Therapeuten ohne Kassensitz einen Platz bekommen. Ihre Kasse zahlt jedoch nur, wenn die ausreichende Dringlichkeit der Therapie nachgewiesen wird und dass bereits mindestens 15 Therapeut*innen mit Kassensitz Termine angefragt wurden: ein enormer Aufwand für die Betroffenen.

Koalitionsvertrag will Verbesserungen

Im Ampel-Koalitionsvertrag einigte die Regierung sich auch auf Verbesserungen in der psychotherapeutischen Versorgung. „Wir reformieren die psychotherapeutische Bedarfsplanung, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren“, heißt es dort.

Auch die Versorgung von Menschen mit schweren und komplexen Erkrankungen soll verbessert werden und die Versorgung in psychiatrischen Krankenhäusern soll „leitlinien- und bedarfsgerecht“, sowie auch die Krisen- und Notfallversorgung ausgebaut werden. Auch die Sprachmittlung für Geflüchtete soll bei der medizinischen Behandlung durch die Krankenkassen finanziert werden. In konkrete Pläne wurden diese Vorhaben jedoch noch nicht umgesetzt.

Die OPK fordert eine Überarbeitung der Bedarfsplanung und eine bessere Finanzierung. Denn dass sich immer mehr Menschen eine Therapie suchten, sei gut und notwendig. Eine entsprechende Versorgung muss gewährleistet werden.

Tipps bei der Suche nach einem Therapieplatz

Für gesetzlich Versicherte vermittelt die Kassenärztliche Vereinigung unter der Nummer 116 117 Erstgespräche. Auch hier kann jedoch eine längere Wartezeit entstehen, je nach Versorgungslage der Region.

Die meisten Therapeut*innen lassen sich zu bestimmten Sprechzeiten per Telefon erreichen. Per E-Mail wartet man manchmal lange auf eine Antwort. Bei Ausbildungsinstituten und Ausbildungspraxen stehen die Chancen, wenn man es durch die Telefonwarteschlange schafft, oft besser für einen schnellen Termin. In Leipzig gibt es das Leipziger Ausbildungsinstitut für Psychologische Psychotherapie (LAP), das Institut für Psychologische Therapie Leipzig e. V. (IPT) und das Institut für Verhaltenstherapie (IVT).

Eine Übersicht über Gruppentherapieplätze finden sich auf gruppenplatz.de

Listen mit queerfreundlichen Therapeut*innen finden sich auf queermed-deutschland.de (leider sehr unvollständig), in verschiedenen Telegram-Gruppen und auf Nachfrage bei der RosaLinde e. V.

Für wohnungslose Menschen oder Menschen ohne Aufenthaltstitel bietet sich über den anonymen Behandlungsschein von CABL e. V. die Möglichkeit Therapeut*innen überhaupt aufsuchen zu können. Der Verbund gemeindenaher Psychiatrie behandelt ebenfalls Menschen ohne Krankenversicherung auf verschiedenen Sprachen und vermittelt alternative Angebote, wie Selbsthilfegruppen oder andere psychosoziale Hilfen.

Bei akuten Notfällen und Krisen (kostenfrei und anonym)

Ökumenische Telefonseelsorge (täglich rund um die Uhr): 0800 1110111 oder 0800 1110222

Leipziger Krisentelefon, jede Nacht 19–7 Uhr, sa/so/feiertags 0–24 Uhr: 0341 99 99 00 00

Leipziger Krisenkontaktstelle an Wochenenden und feiertags 9–19 Uhr: 0341 99 99 00 01

Kurzfristige Psychiatrische Hilfen in der Psychiatrischen Ambulanz des Uniklinikums (0341 9724304) und des Helios-Park-Klimikums (0341 8641110/1112), sowie der Psychiatrischen Akutsprechstunde des Kopfzentrums Leipzig (0341 3095420). Selbst-Einweisung in eine psychiatrische Klinik unter der Nummer 112 (nicht anonym)

Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“: 116 111

Grafik Wartezeit auf Psychotherapie: https://bptk.de/pressemitteilungen/psychisch-kranke-warten-142-tage-auf-eine-psychotherapeutische-behandlung/

Grafiken Anzahl Psychotherapeut*innen: https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16393.php → Psychotherapeut*innen sind die am stärksten wachsende Gruppe

Grafik Psychotherapeut*innen pro Einwohner: https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17015.php (oben im Ausklappmenü Psychotherapeuten auswählen)

„Lange Wartezeiten auf Psychotherapie: Woran liegt es?“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 116, der LEIPZIGER ZEITUNG.

Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar