Die bekanntesten Süchte lassen sich kaum verbergen. Wer von Alkohol abhängig ist, fällt Freund*innen häufig als die Person auf, die viel und oft trinkt. Wer von Drogen abhängig ist, verändert häufig sein Verhalten und manchmal sogar seine äußere Erscheinung. Es gibt aber auch weniger bekannte Süchte, von denen in der Regel allenfalls feste Partner*innen etwas mitbekommen: Pornosucht ist eine davon.
Schätzungsweise mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland leiden darunter. Laut Expert*innen sind vor allem Männer betroffen, aber nicht ausschließlich.
„Pornosucht ist in allen sozialen Milieus und Altersklassen und bei allen Geschlechtern vorhanden“, erklärt Yvonne Stock. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und zertifizierte Sexualberaterin. In ihrer Praxis in Leipzig behandelt die 36-Jährige auch Menschen, die von Pornosucht betroffen sind.
Ein vielfältiges Problem
Bei ihren Patient*innen erkennt sie ein bestimmtes Muster: „Meist gibt es zunächst einen angemessenen Konsum ohne Nebenwirkungen. Dann verselbständigt es sich immer mehr, man spürt einen Leidensdruck und negative Auswirkungen in Job und Beziehung.“ Ebenfalls ein Muster: Nur wenige Patient*innen sind ausschließlich wegen Pornosucht in Behandlung.
„Ähnlich wie bei stoffgebundenen Süchten kann man einfach nicht damit aufhören und hat ein starkes Verlangen danach“, so Stock. Damit einher gehe häufig ein Kontrollverlust: Betroffene wollen beispielsweise nur zehn Minuten Pornos konsumieren – doch es werden mehrere Stunden. Genuss und Freude spielen beim Masturbieren dann häufig keine große Rolle mehr.
Problematisch sei zudem, dass Betroffene eine gewisse Toleranz entwickeln. Das heißt: „Sie benötigen immer stärkere Inhalte.“ Im schlimmsten Fall kann das laut Expert*innen dazu führen, dass Abhängige sogenannte Kinderpornografie – also die Darstellung sexualisierter Gewalt an Kindern – konsumieren.
Kritik an Ausbildung
Ein weiteres Problem ist die Behandlung von Pornosucht. In der psychotherapeutischen Ausbildung spielen Themen rund um Sexualität laut Stock eine untergeordnete Rolle. Dafür könne es eine Vielzahl an Gründen geben: mangelnde Selbstreflexion und überalterte gesellschaftliche Normen zum Beispiel. „Es gibt außerdem wenige eindeutige Therapiekonzepte für sexuelle Funktionsstörungen, anders als beispielsweise bei Angststörung oder Depressionen.“
Dementsprechend ist es nicht einfach, eine Anlaufstelle für diese Probleme zu finden. Sucht man nicht nach einzelnen Therapeut*innen, sondern nach Angeboten in spezialisierten Kliniken, wird es noch schwieriger.
Die Suchtfachklinik „Magdalenenstift“ in Hartmannsdorf bei Chemnitz gilt als einzige solche Anlaufstelle für Menschen mit Pornosucht. Stefan Melzer, therapeutischer Leiter der Klinik, vermutet ebenfalls, dass sich nur wenige an das Thema heranwagen möchten. „Unsere Erfahrung ist, dass es sehr von Moraldiskussionen und -vorstellungen durchsetzt ist und diese eine professionelle Haltung und Behandlung erschweren.“
Thema ist schambehaftet
Zudem gebe es nur ein sehr geringes gesellschaftliches Bewusstsein. Vielen sei gar nicht bekannt, dass Pornosucht existiert. „Dazu kommt eine sehr hohe Schamgrenze vor dem Aufsuchen von Hilfe.“
Laut Melzer hat die Suchtfachklinik eine Erfolgsquote von etwa 50 Prozent. Das heißt: 50 Prozent schaffen es, keine Pornos mehr zu konsumieren. „Die Therapie läuft analog einer Alkoholentwöhnungsbehandlung in einem Zeitraum von in der Regel zwölf Wochen stationär ab.“
Drei Monate ohne Pornokonsum ist auch das, was Yvonne Stock empfiehlt, denn: „Abstinenz ist immer die beste Lösung.“ Wer das nicht schafft, muss seine Therapie aber nicht direkt als gescheitert betrachten. Stock schlägt vor, den Vorfall stattdessen zu nutzen, um daraus zu lernen und zu analysieren, warum es dazu gekommen ist. In ihrer Therapie geht es unter anderen darum, Gründe für Pornosucht herauszufinden, über die medizinischen Hintergründe aufzuklären und nach alternativen Beschäftigungen zu suchen.
„Pornosucht ist ein unterschätztes Phänomen“ erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Sucht“ am 30. April 2023 im ePaper Nr. 112 der LEIPZIGER ZEITUNG. Der Schwerpunkt wird das Thema in allen denkbaren Facetten behandeln: Alkohol, Drogen, aber auch eher Unbekanntes wie Pornosucht. Und während die Debatte über die Legalisierung von Cannabis läuft, schauen wir zurück auf die Geschichte der Drogen quer durch die Zeitalter.
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