ME/CFS โ diese Buchstaben stehen fรผr die Myalgische Enzephalometyelitis/ das Chronische Fatigue-Syndrom, eine Krankheit, von der in Deutschland rund 250.000 Menschen (darunter 40.000 Kinder und Jugendliche) betroffen sind. Weltweit leiden etwa 17 Millionen Menschen daran. Doch trotz dieser nicht geringen Anzahl an Betroffenen sind diese Buchstaben (bisher) nur wenigen ein Begriff. Sie ist schwer greifbar. Personen, die an ME/CFS erkrank sind, weisen eine Vielzahl von Symptomen auf von chronischer Erschรถpfung รผber Immunschwรคche, Gelenkschmerzen, Muskelschwรคche, Entzรผndungen, Konzentrationsschwรคche, Kreislaufbeschwerden, Schlafstรถrungen - die Liste kann um ein Vielfaches fortgesetzt werden.
Bereits seit 1969 ist ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Krankheit klassifiziert, noch immer aber beschรคftigen sich nur wenige Mediziner mit dem komplexen Syndrom. Oft durchlaufen Betroffene eine jahrelange Odyssee an Arzt- und Spezialist/-innenbesuchen, bevor sie eine konkrete Diagnose erhalten.
Wie die deutsche Gesellschaft fรผr ME/CFS beschreibt, gibt es bisher weder eine zugelassene Behandlung noch eine offizielle Forschungsfรถrderung fรผr die Krankheit, die fรผr so viele Menschen sogar lebenslange Bettlรคgerigkeit bedeutet.Eine Studie der Aalborg Universitรคt ordnete die Lebensqualitรคt von Betroffenen 2015 sogar als niedriger ein als bei Multiple-Sklerose-, Schlaganfall oder Lungenkrebspatient/-innen. Erst im vergangenen Jahr, 2020, verabschiedete das Europรคische Parlament eine Resolution zur Anerkennung und Erforschung von ME/CFS und beschrieb die Krankheit als โverborgenes Problem des Gesundheitssystemsโ.
Ausgelรถst wird das Syndrom oft durch einen akuten Infekt, wie das Pfeiffersche Drรผsenfieber. Auch Nadin aus Leipzig beschreibt eine derartige Geschichte. Mit 14 Jahren erkrankte sie, die zuvor sportlich aktiv und nie ernsthaft erkrankt war, an ebendiesem Infekt. Danach war nichts mehr wie bisher. Die inzwischen 35-Jรคhrige litt vor allem unter einem zunehmend schwachen Immunsystem, Erschรถpfung und einer sehr stark verminderten Leistungsfรคhigkeit.
Fast 20 Jahre und zahlreiche Untersuchungen sollte es brauchen, bis sie im Frรผhjahr 2019 die Diagnose ME/CFS erhielt. Obwohl keine Freudennachricht war dieser Moment der Klarheit dennoch eine Erleichterung: โ2019 wurde die Krankheit bei mir diagnostiziert. Ab dem Moment hat sich bei mir ein Schalter umgelegt. Vorher bin ich immer Kompromisse eingegangen. Inzwischen habe ich gut gelernt, meine Grenzen zu erkennen und auf meinen Kรถrper zu hรถren.โ
In der Immundefektambulanz im St. Georg-Klinikum stellten รrzt/-innen zum ersten Mal fest, dass es sich im Fall von Nadin um ME/CFS handeln kรถnnte. Ihre Hausรคrztin, die selbst wenig รผber das Syndrom wusste, beschรคftigte sich mit dem Befund und bestรคtigte schlieรlich die Diagnose. Seitdem geht die Leipzigerin anders mit ihrem Kรถrper um, steckt einen Groรteil ihrer Energie in die Heilung und Betreuung ihres Kรถrpers.
Betroffene von ME/CFS sehen sich oftmals in ihrem Umfeld mit Skepsis und Unverstรคndnis konfrontiert. โTrotz dieser fast 20 Jahre Beschwerden war ich darauf trainiert, zu funktionieren. Oft hรถrte ich von รrzten, ich solle mich nicht so haben, es mรผsse weitergehen.โ Auch persรถnliche Beziehungen und Freundschaften zerbrachen an der Krankheit, die von auรen schwer einzuschรคtzen ist.
โNach der Diagnose wurde ich sozusagen aus der Schulmedizin entlassen. Die Forschung ist an dem Punkt hinterher โ bisher gibt es nur wenige รrzt/-innen, die sich damit auskennen.โ Die Berliner Charitรฉ ist eine der wenigen Einrichtungen, die die Krankheit untersuchen und erforschen. Eine wirkungsvolle Medikation gibt es bisher nicht.
Fรผr Nadin hat sich die Chinesische Heilmedizin als Anker herausgestellt. Die Behandlung ist im Gegensatz zu in westlichen Lรคndern herkรถmmlicher Medizin auf die Ganzheitlichkeit des Kรถrpers ausgelegt. Seit zwei Jahren lรคsst sie sich inzwischen unter anderem mit Akupunktur behandeln, wendet verschiedene Krรคuterpulver, die ihr gegen die verschiedenen Symptome helfen.
Long Covid oder ME/CFS?
โDie Angst um mein Leben hatte ich auch vor Corona, das war fรผr mich kein neues Gefรผhl. Natรผrlich hat es mich zu Beginn der Pandemie, als nicht klar war, was es mit diesem Virus auf sich hat, mehr gestresst, rauszugehen und unter Menschen zu sein. Aufpassen musste ich aber auch schon davor.โ
Aufgehorcht hat sie, als sich die Fรคlle von Long Covid gehรคuft hรคtten. Viele der Langzeitfolgen des Covid-19-Virusโ sind รคhnlich der Symptome von ME/CFS. Auch Patient/-innen, die unter Long Covid leiden, berichten oft von Erschรถpfung nach nur geringer Belastung, Atemproblemen, Muskelschmerzen und Konzentrationsschwรคche. Diese Symptome sind oft auch nach mehr als einem halben Jahr nach der Erkrankung nicht verschwunden.
Ob eine Corona-Erkrankung Auslรถser fรผr das Auftreten von ME/CFS sein kรถnnte โ darauf wollen und kรถnnen Mediziner/-innen sich derzeit nicht zweifelsfrei festlegen. Laut einer Studie der Charitรฉ Berlin, die 42 Personen untersuchte, bei denen Long-Covid-Symptome wie Kurzatmigkeit, Erschรถpfung, Schlaf- und Konzentrationsschwรคchen auftraten, konnte bei der Hรคlfte der Proband/-innen ME/CFS diagnostiziert werden. Ermittelt wurde dies durch die Kanadischen Konsenskriterien, die zur Bestimmung des Syndroms anerkannt sind.
Wie die Lost Voices Stiftung, die Menschen mit ME/CFS unterstรผtzt, berichtet, bestรคtigen frรผhere Studien die Parallele zwischen der viralen SARS-Epidemie von 2003 und dem verstรคrkten Auftreten von ME/CFS. Die Ergebnisse lieรen die Vermutung zu, dass die Erkrankung mit dem SARS-CoV-2-Erreger fรผr einen weltweiten Anstieg von ME/CFS-Betroffenen fรผhren kรถnnte.
Klรคrungsbedarf
Fรผr eine genauere Einordnung der Long-Covid-Symptome werden weitere und lรคngerfristige Studien vonnรถten sein. Allein, zu unterscheiden, ob es sich bei einer Hรคufung von Symptomen um Long Covid, ME/CFS oder eine andere Krankheit handelt, ist schwierig. Bisher sind keine systematischen Unterschiede definiert, die Long-Covid-Symptome beispielsweise von einem Fatigue-Syndrom (chronische Erschรถpfung, Anm. d. Red.) abgrenzt. Das erschwert die Einordnung und Behandlung.
Eine Studie der Universitรคtsklinik, die der Freistaat Sachsen mit einer knappen Million Euro unterstรผtzt, untersucht noch bis Jahresende 300 Personen, die eine SARCS-CoV-2-Infektion รผberstanden haben. Das Projekt umfasst sowohl Befragungen als auch umfassende kรถrperliche Untersuchungen.
โWir wollen mit unserem Projekt die Langzeitfolgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 erforschen und verstehen. Es gilt vor allem herauszufinden, wie lange die Beeintrรคchtigungen anhalten und welche Faktoren den Verlauf beeinflussenโ, erklรคrt Professor Dr. Markus Lรถffler, Leiter des Instituts fรผr Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie. Mithilfe der Studie wolle man Verfahren entwickeln, mit denen Long Covid therapiert und gegebenenfalls vorgebeugt werden kann.
Auch fรผr die Erforschung von ME/CFS wurden erst in diesem Jahr Gelder durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Verfรผgung gestellt. Um einen wissenschaftlichen Durchbruch zu erzielen, werden allerdings weitere Anstrengungen nรถtig sein.
Weitere Informationen finden Sie auf der Seite der Deutschen Gesellschaft fรผr ME/CFS unter www.mecfs.de.
โLeben mit ME/CFS: Das verborgene Problem des Gesundheitssystemsโ erschien erstmals am 3. September 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 94 der LZ finden Sie neben Groรmรคrkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehรคndlern.
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