Je länger die Corona-Pandemie dauert, umso spürbarer wird, dass darunter nicht nur Erwachsene psychisch leiden. Besonders Kinder machen die vielen Einschränkungen zu schaffen. Und das hat heftige Folgen für deren Gesundheit, bilanziert nun die DAK. Die Folgen sind teilweise gravierend und zeigen, wo unsere Gesellschaft gerade in Krisenzeiten ihre Schwächen und Blindstellen hat.

So wurden 2020 in den Krankenhäusern 60 Prozent mehr Mädchen und Jungen aufgrund einer Adipositas behandelt als im Vorjahr. Die Zahl junger Patienten mit starkem Untergewicht stieg um mehr als ein Drittel.

Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nahmen um fast zehn Prozent zu. Deutliche Veränderungen gab es auch bei Diabetes- und Asthma-Erkrankungen sowie Infektionen. Das zeigt der aktuelle Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit, der von Vandage und der Universität Bielefeld erstellt wurde.

Mediziner sehen die Ergebnisse mit Sorge. DAK-Vorstandschef Andreas Storm fordert von der neuen Bundesregierung kurzfristig einen „Aktionsplan Kindergesundheit“.

Für die DAK-Sonderanalyse untersuchten Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld die anonymisierten Krankenhausdaten von knapp 800.000 Kindern und Jugendlichen im Alter bis 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit versichert sind. Analysiert wurden die Krankenhausaufenthalte 2020 im Vergleich zu 2019 mit einem besonderen Fokus auf die Corona-Lockdowns und ihre Auswirkungen.

„Die Krankenhausdaten zeigen alarmierende Folgen der Pandemie für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Deshalb müssen wir die speziellen gesundheitlichen Auswirkungen sehr ernst nehmen und darauf reagieren. Ich fordere nach der Bundestagswahl kurzfristig einen ‚Aktionsplan Kindergesundheit‘. Dieser muss auf die Situation in Familien, Kitas, Schulen und Vereinen eingehen, um die Gesundheit der Mädchen und Jungen besser zu schützen.“

Adipositas, Untergewicht, Diabetes

Laut Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit stiegen die Krankenhausbehandlungen von Kindern mit der Diagnose Adipositas im Jahresvergleich um 60 Prozent an. Während die Zahl junger übergewichtiger Patientinnen und Patienten im Frühjahrs-Lockdown 66 Prozent unter den Wert des Vorjahres sank, stieg sie danach steil an und blieb auf Rekordniveau.

Gleichzeitig wuchs die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit starkem Untergewicht 2020 um 35 Prozent. Nach einem Rückgang im ersten Lockdown um minus 19 Prozent verdoppelten sich die Fälle danach. Stationär behandelte Essstörungen wie Bulimie und Anorexie nahmen in den Lockdowns deutlich zu – im Jahresvergleich gab es einen Anstieg um zehn Prozent.

Die Zahl von stationär behandelten Kindern und Jugendlichen mit Diabetes-Typ-1-Diagnose nahm 2020 mit zwei Prozent leicht zu. Allerdings gab es im ersten Lockdown einem starken Rückgang um 28 Prozent. Dagegen lag die Zahl der Behandlungen im zweiten Lockdown 42 Prozent über dem Vorjahr.

Durch die Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen in der Pandemie sank hingegen die Zahl der behandelten Infektionskrankheiten deutlich. Die Krankenhausbehandlungen bei virusbedingten Darminfektionen gingen im Vergleich zum Vorjahr um 80 Prozent zurück. Bei Mandelentzündungen gab es ein Minus von 46 Prozent. Ferner gab es ein Drittel weniger junge Patientinnen und Patienten mit einer akuten Bronchitis.

„Die Krankenhausbehandlungsfälle von Kindern und Jugendlichen gingen im ersten Lockdown stärker zurück als im zweiten. Gleichzeitig wurden in Kliniken aber mehr schwere Fälle behandelt“, betont Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte.

„Besorgniserregend ist der Rückgang der stationären Behandlungsfälle ernster Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Asthma bronchiale und psychische Erkrankungen. Insbesondere Adipositas und seelische Störungen waren im zweiten Lockdown sogar häufiger ein Behandlungsgrund als im Vorjahr. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben deutlich negative Effekte auf die Kinder- und Jugendgesundheit – vor allem in den Bereichen Körpergewicht und psychische Gesundheit. Diese Effekte werden uns noch nachhaltig beschäftigen. Es wird noch lange dauern, bis wir zu einer Normalität zurückkehren können.“

Durch die Einschätzung der Kinder- und Jugendärzte sieht die DAK-Gesundheit die Notwendigkeit, nach der Bundestagswahl auch eine neue Enquete-Kommission einzusetzen.
„Politik und Wissenschaft müssen die Auswirkungen von Corona analysieren und langfristige Konzepte entwickeln“, fordert DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Kindergesundheit muss ein eigenes Kapitel in der Gesundheitspolitik werden.“ Bereits im Juni hatte die Gesundheitsministerkonferenz der Länder die Einrichtung einer Enquete-Kommission angeregt.

Die psychischen Folgen der Lockdowns

Bei den psychischen Erkrankungen blieb die Zahl der Klinikbehandlungen insgesamt auf dem Niveau von 2019, so die DAK. Es zeigte sich aber im Jahresverlauf eine starke Dynamik: Nachdem im Frühjahrs-Lockdown über 30 Prozent weniger junge Patientinnen und Patienten aufgrund einer Verhaltensstörung behandelt wurden, stieg ihre Zahl im Herbst- und Winter-Lockdown mit einem Plus von vier Prozent leicht an.

Bei Depressionen und Angststörungen zeigte sich ein ähnliches Bild: So wurden im ersten Lockdown rund 37 Prozent weniger Mädchen und Jungen stationär versorgt – seit dem ersten Lockdown sind dabei steigende stationäre Versorgungszahlen zu beobachten. Während des zweiten Lockdowns Ende 2020 wurden acht Prozent mehr Kinder und Jugendliche wegen Depressionen und Ängsten stationär behandelt als im Vorjahr.

Schlechtere Versorgungslage sorgt für „Nachholeffekte“

„Neben Erkrankungen, die von den Infektionsgeschehen weitgehend unberührt geblieben sind, wie zum Beispiel onkologische Erkrankungen oder die Versorgung von Frühgeborenen, sehen wir eine Gruppe von Erkrankungen mit erheblichen Veränderungen durch die Pandemie. So kam es zu einem starken Einbruch der Fallzahlen und einer deutlichen Verschiebung im Krankheitsspektrum von stationär versorgten Kindern und Jugendlichen“, so Professor Dr. Eckard Hamelmann, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Klinikum Bethel, Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld.

„Es zeichnet sich ab, dass die schlechtere allgemeine Versorgungslage, wie wir sie zu Zeiten der Pandemie erlebt haben, zu einer Zunahme von schweren Krankheitsverläufen und psychischen Begleiterkrankungen geführt hat. Auch werden wir mit einem ‚Nachholeffekt‘ bei Infektionskrankheiten rechnen müssen, die jetzt durch die Maßnahmen des Infektionsschutzes ausgefallen sind. Wir sind aufgefordert, diese Entwicklung sehr wachsam in den nächsten Monaten zu beobachten und die Versorgungsangebote in den Krankenhäusern den neuen Gegebenheiten anzupassen, aber keineswegs zu verschmälern.“

Im Corona-Jahr 2020 ging die Zahl der Krankenhausfälle von Kindern und Jugendlichen generell leicht zurück. So verzeichneten deutsche Krankenhäuser 2020 im Vergleich zum Vorjahr rund fünf Prozent weniger junge Patientinnen und Patienten. Am deutlichsten war der Rückgang im ersten Lockdown (minus 41 Prozent), weniger stark im zweiten Lockdown (minus zehn Prozent).

Die Anzahl an Operationen blieb im Jahresvergleich fast konstant und stieg leicht um knapp ein Prozent. Auch hier hatten die Lockdowns deutliche Effekte: Wurden im Frühjahrs-Lockdown noch knapp 40 Prozent weniger Operationen durchgeführt, waren es im Herbst- und Winter-Lockdown etwas mehr Eingriffe als im Vorjahr.

„Wir haben 2020 weniger Nachholeffekte in deutschen Klinken erlebt, als wir erwartet hatten“, sagt Professor Dr. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld. „Inzwischen sehen wir aber zum Teil schwerere Erkrankungsverläufe oder eine Zunahme bestimmter gesundheitlicher Problemlagen, wie häufigere Adipositas- und Diabetes-Behandlungen. Es ist derzeit noch nicht absehbar, ob langfristig aus den beobachteten Entwicklungen der Pandemie-Zeit weitere Belastungen für Kinder und Jugendliche sowie das Gesundheitssystem folgen.“

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