Anja Mehnert-Theuerkauf ist Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Uniklinikum Leipzig (UKL). Im Interview mit der Leipziger Zeitung (LZ) schätzt sie die Vor- und Nachteile nationaler Strategien und globaler Vorgehensweisen ein.
Frau Mehnert-Theuerkauf, während in Deutschland an vielen Orten die Außengastronomie und Kultureinrichtungen wieder eröffnen, greift in Großbritannien, wo dies schon vor einigen Wochen der Fall war, nun die indische Mutation um sich. Bisher sind Lockerungen in der Bundesrepublik ja an Inzidenzen und Krankenhauskapazitäten gebunden. Sollten globale Entwicklungen bei der Einführung von Maßnahmen stärker in den Blick genommen werden? Wir leben in sehr komplexen Systemen. Die Welt ist globalisiert und Entwicklungen auf der anderen Seite des Globus könnten schnell auch bei uns einkehren. Es gibt diese nicht zu unterschätzende Bedrohungslage. Sie wird besonders sichtbar, wenn man in die Krankenhäuser schaut.
Ich glaube dennoch, dass es zu vage wäre, politische Entscheidungen an kaum erforschten Mutationen auszurichten. Was diese Mutationen wirklich bedeuten, kann noch niemand genau sagen. Bedeutet es in Großbritannien oder Deutschland das Gleiche, wenn eine Mutation um sich greift, wie in einem ärmeren Land wie beispielsweise Indien?
Außerdem sind die Menschen pandemiemüde. Es gibt Leute, die ihre Existenzen verloren haben oder gerade am Existenzminimum sind. Das alles müssen Politiker abwägen, um den größtmöglichen Schaden abzuwenden. Schaden und Nutzen, Sicherheit und Freiheit müssen ständig gegeneinander abgewogen werden. Für unglaublich viele Menschen. Das ist eine äußerst schwierige, komplexe Aufgabe.
Könnte Pandemiebekämpfung trotzdem weniger national gedacht werden? Was hätte es für Vor- und Nachteile, global zu agieren?
Die erste Frage stelle ich mir auch oft. Wie man globalere Pandemiebekämpfung umsetzen könnte, ist natürlich eine andere Sache. Die Gesetzgebungen der verschiedenen Länder haben ja auch ein jeweils eigenes Verständnis von Gesundheit. Globale Strategien sind daher mit Sicherheit deutlich schwieriger umzusetzen.
Die zweite Frage zielt ja darauf ab, ob es überhaupt sinnvoll wäre. Da sind zwei Seelen in meiner Brust. Auf der einen Seite finde ich, es wäre viel sinnvoller, wenn man bestimmte Strategien gemeinschaftlich organisieren würde. Es gab in der Weltgeschichte schon viele große Pandemien. Durch die Globalisierung, durch die Massentierhaltung, durch die Umweltzerstörung müssen wir mit noch mehr Pandemien rechnen, die sich auch rasanter ausbreiten.
Auf der anderen Seite sieht man ja gerade an dieser rasanten Entwicklung, beispielsweise bei der COVID-19-Pandemie, dass sich selbst Experten in einem Land unsicher und nicht einig waren, was die beste Strategie ist. Da ist eine Einigung vieler Staaten mit vielen Akteuren mit Sicherheit noch schwieriger.
Außerdem denke ich, dass eine gewisse Heterogenität der Maßnahmen wichtig ist für den evolutionären Lernprozess der Menschen. Wir haben jetzt Daten von verschiedenen Vorgehensweisen. Daraus kann man für die nächste Pandemie natürlich viel lernen. Und auch die wichtigen Fragen beantworten: Können wir auf die Leute setzen? Sind die Bürger vernünftig oder nicht? Halten sie sich an Empfehlungen? Wie müssen die Empfehlungen formuliert sein?
Die Bürger/-innen sind dabei wahrscheinlich auch der springende Punkt. Viele würden eventuell nicht verstehen und akzeptieren, dass sie sich an Maßnahmen halten müssen, weil auf der anderen Seite des Globus die Pandemie stark um sich greift. Während vor der eigenen Haustür alles in Ordnung ist.
Es ist ja auch eine Überforderung für die Leute, immer alles global sehen zu müssen. Klar schauen viele über den nationalen Horizont hinaus. Aber wir haben unsere Verpflichtungen, unseren Alltag, unsere sozialen Kontakte. Das Verhalten von Personen zu studieren, ist unser Kerngebiet hier in der Abteilung. Und die Gewohnheiten des Menschen sind schwer zu verändern. Ob der Grund dafür direkt vor der eigenen Nase ist oder am anderen Ende der Welt.
„Pandemie global gedacht“ erschien erstmals am 28. Mai 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG.
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