Nach monatelangem Homeschooling beginnt in diesen Tagen auch fรผr zahlreiche Schรผlerinnen und Schรผler der weiterfรผhrenden Schulen wieder der Prรคsenzunterricht. Der Lockdown hat bei vielen von ihnen Spuren hinterlassen. Ein Thema, mit dem sich der Kinder- und Jugendpsychologe Prof. Dr. Julian Schmitz vom Institut fรผr Psychologie der Universitรคt Leipzig intensiv beschรคftigt.

Im Interview spricht er รผber die psychischen Folgen der Coronakrise bei den Jรผngsten unserer Gesellschaft. Seine Abteilung hat kรผrzlich mit einer Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit Angststรถrungen in der Coronakrise begonnen.

Herr Prof. Schmitz, wie, denken Sie, hat sich diese besondere Situation des Homeschoolings auf die Psyche der Kinder und Jugendlichen ausgewirkt?

Die Corona-Pandemie mit den Schul- und KitaschlieรŸungen ist eine stark herausfordernde Situation fรผr alle Kinder, Jugendlichen und Familien. Auf der einen Seite ist dies eine Zeit mit extremer Unsicherheit und Zukunftsรคngsten. Kinder stellen sich Fragen wie โ€žWann kann ich wieder in die Schule?โ€œ, โ€žWann sehe ich meine Freunde wieder?โ€œ, โ€žSchaffe ich meine Klassenarbeiten und meine Versetzung?โ€œ. Insgesamt hat dies zu einer hohen Belastung in den Familien gefรผhrt.

Dazu kommt der Verlust von sozialen Kontakten in der Schule. Sozialer Austausch und Gleichaltrige sind besonders fรผr die soziale Entwicklung von Kindern unerlรคsslich. Zudem berichten viele Familien auch von innerfamiliรคren Spannungen durch die Unvereinbarkeit von elterlichem Homeoffice und beruflichem Stress zusammen mit der Anforderung, Kinder zu Hause zu unterrichten. Viele Familien und Kinder sind in dieser Zeit an ihre psychische Belastungsgrenze gekommen und tief erschรถpft.

Das alles zeigt sich nicht nur in den Berichten der Kinder und Familien, die zur Behandlung in unsere Psychotherapeutische Hochschulambulanz kommen, sondern auch in vielen nationalen und internationalen Forschungsstudien. Psychische Belastungen wie Depressionen, Angststรถrungen, aber auch expansive Verhaltensstรถrungen haben sehr deutlich zugenommen โ€“ sowohl in Deutschland, als auch international.

Was sind gerade die hรคufigsten psychischen Probleme der Kinder und Jugendlichen? Welche Spรคtfolgen kรถnnten diese haben?

Wir sehen aktuell keine Zunahme von nur einer Gruppe von Stรถrungen, sondern eine starke Zunahme von psychischen Belastungen aus dem gesamten Spektrum wie Depressionen, ร„ngsten, Zwangsstรถrungen und Verhaltensstรถrungen. Dabei leiden auf der einen Seite die Kinder und Jugendlichen, die schon mit einer psychischen Stรถrung in die Pandemie gegangen sind und deren Lage sich hรคufig sehr verschlechtert hat.

Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass viele Kinder, die vor der Krise psychisch gesund waren, nun in dieser Zeit โ€“ insbesondere der Lockdowns โ€“ psychisch krank geworden sind.

Es macht uns groรŸe Sorgen, dass es nicht genug psychotherapeutische Angebote gibt, um diese Kinder und Jugendlichen aufzufangen und zu behandeln. Bereits vor der Corona-Pandemie mussten psychisch kranke Kinder und Jugendliche oft monatelang auf Therapieplรคtze warten. Diese Situation hat sich noch deutlich verschรคrft. Ich erwarte, dass wir einen nachhaltigen Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen sehen werden.

Unsere Forschungsdaten zeigen sehr deutlich, dass die Mehrzahl der psychischen Stรถrungen sich nicht von allein wieder gibt, sondern diese Stรถrungen oft einen chronischen Verlauf nehmen und รผber die Zeit weitere Stรถrungen hinzukommen. Wir kรถnnen also nicht davon ausgehen, dass sich nach dem Ende der Pandemie die Situation der psychisch erkrankten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen einfach von allein wieder vollstรคndig entspannt.

Prof. Dr. Julian Schmitz. Foto: Privat
Prof. Dr. Julian Schmitz. Foto: Privat

Was kรถnnen Eltern und Lehrer tun, um die Schรผlerinnen und Schรผler in dieser schwierigen Zeit zu unterstรผtzen?

Wenn wir nach Eltern und Lehrern fragen, dann unterstellen wir, dass diese noch viele Mรถglichkeiten haben, um Dinge anders und besser zu machen. Es mag teilweise stimmen, dass Eltern noch รผberlegen kรถnnen, wie sie ihre Kinder noch besser in dieser Situation unterstรผtzen kรถnnen. Wie kriegen wir eine gute Tagesstruktur mit einem regelmรครŸigen Ablauf von Lern- und Freizeit hin? Wie begrenze ich Medienzeiten? Wo kann ich fรผr mein Kind bei Problemen ein offenes Ohr haben? Wie ermรถgliche ich trotz Kontaktbeschrรคnkungen soziale Kontakte zu anderen Kindern?

Lehrerinnen und Lehrer kรถnnen versuchen, so viel persรถnlichen Kontakt wie mรถglich zu ihren Schรผlerinnen und Schรผlern zu halten und hรคufig digitale Lehre in Form von Videokonferenzen anbieten, wenn Prรคsenzunterricht nicht mรถglich ist. Daten zeigen, dass hier leider viel versรคumt wurde und oft Kinder von manchen Lehrern nur Arbeitsblรคtter zugeschickt bekommen haben ohne jeglichen persรถnlichen Kontakt oder Lernbegleitung.

Auf der anderen Seite sind sowohl viele Eltern als auch Lehrer an und รผber ihre Grenzen gegangen und hatten den Eindruck, dass ihre Situation von der Politik nicht ernst genug genommen wurde. Ein gutes Beispiel ist hier die fehlende technische Ausstattung fรผr das Homeschooling oder sehr rigide Regelungen fรผr die Notbetreuung, die sich nicht an der psychischen Gesundheit von Kindern und Eltern orientiert hat, sondern allein am ausgeรผbten Beruf.

Wir hatten uns bereits 2020 von der Deutschen Gesellschaft fรผr Psychologie gemeinsam mit dem Deutschen Kinderschutzbund an die Landesregierungen gewandt und auf die dringende Notwendigkeit der ร–ffnung der Notbetreuung fรผr psychisch kranke Kinder hingewiesen.

Sehen Sie Unterschiede zum ersten Lockdown im vergangenen Jahr?

Im Vergleich zum ersten Lockdown im Frรผhjahr 2020 ist im Winter einiges besser geregelt worden. So steht die ร–ffnung von Schulen und Kitas weiter oben auf der Prioritรคtenliste, und es wurden mehr Kinderkrankheitstage ermรถglicht. Auch die Regelungen der Notbetreuung wurde in vielen Bundeslรคndern fรผr belastete Familien geรถffnet, leider allerdings nicht in Sachsen. Viele Familien berichten, dass sie sich von der Politik alleingelassen gefรผhlt haben.

Aus meiner Sicht hat es jetzt oberste Prioritรคt, Modelle zu entwickeln, dass Kinder zumindest anteilig und zuverlรคssig die Bildungseinrichtungen besuchen kรถnnen und auch Freizeitangebote mit guten Hygienekonzepten und einer Corona-Test-Strategie geรถffnet werden. Wir mรผssen uns klarmachen, dass besonders im Kindesalter versรคumte Entwicklungsschritte nicht oder nur schlecht nachgeholt werden kรถnnen. Eine besonders groรŸe Sorge machen mir weiterhin Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Fรผr diese Familien mรผssen in Zukunft Angebote gemacht werden, um das Versรคumte mรถglichst gut wieder aufzuholen.

Die Abteilung fรผr klinische Kinder- und Jugendpsychologie am Institut fรผr Psychologie hat gerade eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit Angststรถrungen in der Coronakrise gestartet. Was haben Sie vor?

Ja, wir haben kรผrzlich mit einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefรถrderten Studie zu Angststรถrungen bei Kindern und Jugendlichen gemeinsam mit der Universitรคt Freiburg begonnen. In diesem Projekt untersuchen wir, welche Prozesse Angststรถrungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren aufrechterhalten, insbesondere neurobiologische Faktoren.

Insgesamt wollen wir 200 Kinder untersuchen. Auch wenn Angststรถrungen zu den hรคufigsten psychischen Stรถrungen bei Kindern und Jugendlichen gehรถren, wissen wir noch zu wenig, wie diese Stรถrungen bei Kindern entstehen und aufrechterhalten werden. Nur wenn wir diese Lรผcken schlieรŸen, kรถnnen wir Angststรถrungen auch gut behandeln. Neben der intensiven Befragung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern messen wir beispielsweise, wie Kinder mit Angststรถrungen soziale Situationen wahrnehmen und wie sie mit ihren Gefรผhlen umgehen.

Das Projekt steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, auch wenn wir โ€“ wie bereits erwรคhnt โ€“ feststellen, dass ร„ngste bei Kindern deutlich zugenommen haben. Fรผr Kinder und Jugendliche mit Angststรถrungen kann es nach der langen Zeit der SchulschlieรŸungen jetzt besonders schwer sein, wieder am Prรคsenzunterricht teilzunehmen, da Angstsituationen in der Schule durch die SchulschlieรŸungen lange vermieden wurden und sich die damit verbundenen ร„ngste stabilisiert haben.

Kรถnnen die Schรผlerinnen und Schรผler mit einer Angststรถrung รผberhaupt noch am Prรคsenzunterricht teilnehmen?

Angststรถrungen kรถnnen sich sehr unterschiedlich bei Kindern und Jugendlichen รคuรŸern. Die groรŸe Mehrzahl von Kindern, die unter Angststรถrungen leiden, kรถnnen noch die Schule besuchen, auch wenn Schulsituationen oft angstbesetzt sind: Wie sich melden in der Klasse, Trennung von den Eltern oder Konfliktsituationen mit anderen Kindern. Es gibt aber auch Fรคlle, in denen ร„ngste sich so stark ausbilden, dass betroffene Kinder und Jugendliche es nicht mehr schaffen, in die Schule zu gehen.

Das Interview fรผhrte die Medienredaktion der Universitรคt Leipzig.

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Wir sind irgendwo vor der dritten Welle und die Nerven sind angespannt. Bei Eltern, bei Kindern, bei Lehrer*innen. Ich habe Glรผck, denn ich arbeite ich an einer Schule, in der digitales Lernen fest verankert ist und der GroรŸteil der Schรผler*innen รผber ein eigenes Gerรคt und Internetzugang verfรผgen. Doch oft sieht es sicherlich anders aus: Schรผler*innen haben kein eigenes Gerรคt, digitale Lernplattformen der Lรคnder sind wenig stabil, Lehrer*innen รผberfordert.
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