Wissenschaftler sind Leute, die sich nicht kurzfassen können. Aus gutem Grund: Sie müssen ihre Ansätze und Thesen erklären. Und das passt nun einmal selten in knackige „News-Überschriften“. Wir haben an dieser Stelle schon einmal über eine recht detaillierte Kritik des Leipziger Wissenschaftsverlages zu den aktuellen Corona-Zahlen berichtet. Zahlen, die ja bekanntlich von Land zu Land erstaunlich differieren und zu lauter Mutmaßungen Anlass geben.
Mutmaßungen, die oft mit Absicht am wirklichen Problem vorbeigehen: der gnadenlosen Sparwut, mit der neoliberale Politiker seit Jahren die Gesundheitssysteme des Westens kaputtgespart haben. Auch in Deutschland. Auch in Sachsen, auch wenn das Dilemma hier noch nicht so schlimm ist wie in England oder den USA, wo die Privatisierung des Gesundheitswesens schon viel weiter fortgeschritten ist.
Aber auch in Deutschland hat eine bekannte Stiftung seit Jahren immer wieder massive Vorstöße organisiert, um den verantwortlichen Politikern einzureden, Deutschland habe zu viele Kliniken. Der jüngste Vorstoß war gerade gestartet, als die Convid-19-Pandemie anrollte. Und etliche Krankenhäuser machen sogar noch mitten in der Krise dicht, worüber am 7. April „Die Zeit“ berichtete: „Kliniken schließen – wenn sie am nötigsten gebraucht werden“.
Die Norditaliener, Spanier, Engländer und New Yorker erleben jetzt, was passiert, wenn ein Gesundheitssystem keinen Puffer mehr hat und die Betten auf den Intensivstationen schon in den ersten Tagen der Epidemie nicht mehr ausreichen.
Es ist schon erstaunlich, wie intensiv „Die Zeit“ jetzt über das Thema berichtet. Augenscheinlich sind dort in der Redaktion ein paar Groschen gefallen und man hat verstanden, was die neoliberale Sparwut mit unserer Gesellschaft anrichtet. Da hilft auch kein Klatschen abends vom Balkon. Denn es fehlen im Notfall nicht nur Krankenhausbetten, sondern auch Ärzt/-innen und Pfleger/-innen. Letztere wurden auch in Deutschland die ersten Opfer der Sparorgie, die mit dem 2003 eingeführten System der Fallpauschalen einsetzte.
Und da tausende Pflegerstellen unbesetzt sind, arbeitet das medizinische Personal am Limit, betreut viel mehr Patienten als gesetzlich eigentlich vorgesehen und wird selbst angesteckt, weil Schutzausrüstung fehlt. In der „Zeit“ geht Angus Deaton auf die verheerenden Wirkungen der neoliberalen Reformen ein, die das Gesundheitswesen dem Markt zu Fraß vorwerfen: „Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“.
Aber es sind die Krankenhäuser mit diesem heruntergesparten Personal und es sind die (noch vorhandenen) Betten auf Intensivstationen, die im Fall einer Pandemie den Engpass darstellen. Und das sogar dann, wenn die Mortalitätsziffern eigentlich selbst im Vergleich mit einer normalen Grippewelle niedrig sind.
Denn intensiv behandelt werden müssen Menschen, die sowieso schon gesundheitlich geschwächt sind. Oder eben sehr alt. Ihr Körper hat einfach nicht mehr die Widerstandskräfte jüngerer Menschen.
Die Folge, so der Leipziger Wissenschaftsverlag in seiner jüngsten Stellungnahme:
„Infiziert sind mehrheitlich nicht die älteren und ältesten Menschen, die vermehrt an Covid-19 sterben, sondern die 35- bis 60-Jährigen, also die Altersgruppe, die sich in diesem Winter am häufigsten im Tiroler Skigebiet tummelte. Während die italienischen und spanischen Skifahrer nach dem Winterurlaub in Mehrgenerationen-Haushalte zurückkehrten und bei gemeinsamen Mahlzeiten mit den Großeltern und Urgroßeltern in engem Kontakt waren, kehrten die deutschen Skifahrer mehrheitlich in Klein- und Kernfamilien zurück, während die Großeltern und Urgroßeltern selbständig in eigenen Wohnungen lebten oder in Pflegeheimen untergebracht waren.
Es erscheint plausibel, dass diese familiensoziologischen und kulturellen Differenzen zu unterschiedlichen Infektionswegen des neuen Coronavirus beigetragen haben. Es ist aber nicht so, dass die Deutschen einfach nur Glück gehabt hätten, wie Christian Drosten vor ein paar Tagen resigniert resümierte. Vielmehr erwies sich die ansonsten löbliche familiäre Betreuung der älteren und ältesten Menschen in Südeuropa angesichts der Corona-Herausforderung als Bumerang, während sich die deutsche Tradition der Heimunterbringung zunächst erst einmal als ein Schutzschild erwies.
Rasch aber kann sich der Schutzschild in eine Falle verwandeln. Sobald das neue Coronavirus in den deutschen Alters- und Pflegeheimen grassiert, wird auch hierzulande die Sterblichkeit in Zusammenhang mit Covid-19 anschwellen. Die reflexhafte Reaktion, die Altenheime hermetisch abzuriegeln und den Besucherverkehr komplett zu unterbinden, erscheint aus dieser Sicht nachvollziehbar. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend, um die Bewohner der Altenheime zu schützen.
Der paradoxe Befund, dass die 35- bis 60-Jährigen am häufigsten mit dem neuen Coronavirus infiziert sind, aber die über 80-Jährigen am häufigsten an Covid-19 sterben, lässt als weiteres Ergebnis festhalten, dass nicht das neue Virus namens ,SARS-Cov-2‘ an sich tödlich wirkt, sondern nur in Wechselwirkung mit weiteren Faktoren, die die öffentliche Gesundheit betreffen, gefährlich sein kann.
Anhand der vergleichsweise geringen deutschen Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 ist außerdem zu sehen, dass die übliche Geschlechterdifferenz – Männer sterben früher als Frauen – auch bei den mit Covid-19 in Zusammenhang gebrachten Todesfällen weiterhin gilt. Sie ist bekanntlich auf eine Vielfalt psychosozialer Faktoren (etwa Gesundheitsbewusstsein, Risikobereitschaft) zurückzuführen und lässt sich nicht monokausal erklären. Damit stellt sich die Frage, welcher Anteil dem neuen Virus und welche Anteile weiteren Faktoren zugeschrieben werden müssen.
Hier geht es nicht allein um Infektionswege, Familienkulturen, Atemwegserkrankungen fördernde Luftverschmutzung oder die ,Überalterung‘ der Bevölkerung, die in normalen Zeiten ein Indiz für eine gesunde und nachhaltige Lebensweise – la dolce vita – darstellen mag. Der springende Punkt ist die Redundanz des Gesundheitssystems, um Krisen auffangen zu können. Je mehr – möglicherweise infolge von Privatisierung – in Zeiten ohne Epidemien gespart wird, desto weniger Kapazitäten weist das System auf, um mit Stress umzugehen.
In den USA rächt sich nun das Fehlen einer Gesundheitsgrundsicherung in Form einer gesetzlichen Krankenversicherung. Derart plötzliche Herausforderungen wie durch Covid-19 kann die völlig privatisierte Gesundheitsfürsorge in den USA nicht meistern. Ob Schweden mit derzeit gut 500 ITS-Plätzen für das gesamte Land der Herausforderung gewachsen sein wird, erscheint fraglich.“
Ein ziemlich deutliches Fazit.
Auch der Wissenschaftsverlag hätte seine Wortmeldung betiteln können: „Ein freier Markt garantiert keine Gesundheitsversorgung“. Im Gegenteil: Er spart alle Puffer und Reserven weg, trimmt das System auf Rendite und will Gewinne machen. Auf der Strecke bleiben das Personal und die Patienten.
Die positive Nachricht, die Prof. Dr. Torsten Klemm für den Leipziger Wissenschaftsverlag treffen kann: „Entscheidend für die Überlastung des Gesundheitssystems ist vielmehr die Geschwindigkeit, mit der sich die Belegung von ITS-Betten durch Covid-19-Patienten verdoppelt und die Verweildauer von Covid-19-Patienten auf der ITS erhöht.“
Deutschland hat aktuell 16.000 Betten auf Intensivstationen. Davon waren am 30. März 1.876 belegt, am 3. April dann 2.680. Die Auslastung betrug also 16,7 Prozent. Zumindest übers ganze Land betrachtet. Auch in Italien war es nicht das gesamte Gesundheitssystem, das überlastet war, sondern schwerpunktmäßig das in der Lombardei.
Der Wissenschaftsverlag dazu: „Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Kapazität an intensivmedizinischen Behandlungsplätzen in Italien insgesamt geringer ausgebaut ist als in Deutschland. So verfügte die Lombardei vor dem Ausbruch von Covid-19 nur über 650 ITS-Plätze, Ende März 2020 bereits über 1.328, wobei die in Windeseile neu geschaffenen ITS-Betten nur minderwertig ausgestattet sind (Quelle: Davide Manca, ESA European Society of Anaestetiology, Stand 31.03.2020).“
In der Lombardei waren am 31. März 1.317 Patienten auf einer ITS untergebracht.
Das Fazit, das Torsten Klemm zieht: „Das neue Coronavirus SARS-Cov-2 wirft letztlich eine alte, tiefergehende, gesellschaftliche und kulturelle Frage auf: Wie gehen wir mit dem Altern, mit teilweise unausweichlichen und unheilbaren Alterskrankheiten und schließlich mit dem unvermeidlichen Tod um? Wie wollen wir damit umgehen? Alte Menschen in Heimen und Krankenhäusern einzusperren und zu isolieren, ihnen nur noch wie Astronauten in Schutzkleidung zu begegnen und zugleich den Beistand ihrer liebsten Angehörigen zu verwehren, um sie somatisch länger am Leben zu erhalten, das erscheint – gerade aus ethischer Sicht – als eine äußerst fragwürdige ,Lösung‘.
Welche Qualität hat das Leben dann noch? Und welche Risiken bedeutet die soziale Isolation für die Gesundheit und das Überleben der älteren und ältesten Menschen? Geht es in den meisten Fällen, in denen das Leben der über 80-jährigen Menschen nun zusätzlich auch durch Covid-19 bedroht ist, nicht um eine Abwägung zwischen palliativer, psychosozialer und kausaler medizinischer Behandlung? Charakterisiert dieses Dilemma nicht die Gerontomedizin insgesamt, ganz unabhängig von Covid-19, d. h. inwiefern stellt Covid-19 eine neue Fragestellung dar?
Wie ist es gelungen, den Aspekt der seelischen Gesundheit scheinbar komplett aus dem medizinischen Menschenbild zu eliminieren? Woher nehmen Politiker auf höchster Ebene die Gewissheit, wenn sie versuchen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, es sei verantwortungslos und ,böse‘, seinen Nächsten in der Phase des Sterbens nahe, vielleicht sogar ein Grund zur Freude und zum Glück zu sein? Ist es nicht denkbar, dass hier der Chirurg die Säge ansetzt, um einen Schnupfen bei einem Patienten zu heilen, der seit Jahren schon an Krebs oder Diabetes leidet?“
Was die ganzen Zahlen zu Covid-19-Tests tatsächlich erzählen – und was nicht
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