Die Leipziger Forschungen zum krankhaften Übergewicht (Adipositas) gehen weiter, auch wenn die Uni Leipzig 2018 mit dem Adipositas-Projekt keinen Erfolg in der Exzellenzstrategie des Bundes hatte. Wie denn auch? Wer sich mit krankhaftem Übergewicht beschäftigt, der landet bei Zucker und Fetten und den ungesunden Fertigangeboten in den Supermärkten. Genau bei dem Zeug, das vor allem Kinder aus armen Familien vorgesetzt bekommen. Oder sich freiwillig holen, angefixt von einer verlogenen Werbung.
Und dass es vor allem diese Kinder sind, die dann schon bei den Schulvoruntersuchungen auffallen durch Übergewicht und eingeschränkte Motorik, ist auch längst bekannt. Man kann die Nicht-Fortsetzung der Exzellenzförderung auch so interpretieren: Wenn Forschung den Gewinnen nationaler Einzelhandelskonzerne ins Gehege kommt, liegt der Verdacht nahe, dass die Fördermittel gestrichen werden.
Das Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen hat jetzt eine kleine Untersuchung vorgelegt, die zu so einer Nahtstelle vorstößt: Was essen Kinder in der Schulzeit? Wer nutzt die Schulkantine und wer kauft sich vom Taschengeld das Mittagessen im nahegelegenen Supermarkt?
Die Antworten darauf kennen Forscher des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig jetzt. Denn sie untersuchten das Ernährungsverhalten von über 1.200 Kindern an Leipziger Schulen, um Rückschlüsse auf die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas zu ziehen. Die Leipziger Schulernährungsstudie steht nun kurz vor dem Abschluss, erste Ergebnisse liegen jetzt vor.
Krankhaftes Übergewicht kennt viele Ursachen: Neben genetischen und biologischen Faktoren spielt auch die Umwelt eine Rolle, etwa das soziale Milieu oder bei Kindern auch die Schulumgebung.
„Da wir die soziale Herkunft von Kindern nicht ändern können, fokussieren wir uns auf die Verhältnisse der Ernährungsumwelt im Schulkontext. Das Erkennen veränderbarer Einflüsse ist wichtig um eine gesundheitsförderliche Lebenswelt in Schulen für alle Kinder zu gestalten“, sagt Dr. Tobias Lipek, Leiter der Leipziger Schulernährungsstudie.
„Unsere Hypothese lautete, dass auch die Ernährung ohne Eltern in der Schule einen Einfluss auf das Gewicht und die Gesundheit der Kinder haben kann.“
Kartiert, befragt, vermessen, analysiert
Dazu untersuchten die Wissenschaftler 1.215 Kinder an 41 Leipziger Schulen. An Grundschulen und weiterführenden Schulen nahmen Schüler der Klassen 4 sowie 6, 7 und 8 teil. Das Hauptuntersuchungsgebiet bildete der Stadtteil Grünau mit einer hohen Adipositas-Prävalenz unter den Kindern. Als Kontrastgebiet zogen die Forscher Schleußig und die Südvorstadt heran, als Kontrollgebiet dienten Schulen in Schönefeld, Paunsdorf und Mockau Nord. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich vom Sommer 2018 bis zum Sommer 2019.
Die Kinder wurden gewogen und vermessen und machten in einem Fragebogen Angaben, wie und was sie essen, ob sie an der Schulspeisung teilnehmen, wie viel Taschengeld sie bekommen und wofür sie es ausgeben. Parallel wurden auch die Eltern der Kinder dazu befragt.
Weiterhin analysierten die Wissenschaftler die Speisepläne der Schulessensanbieter und erstellten für jede Schule eine Karte mit allen Lebensmittelläden im Umkreis von 800 Metern. Hier sollten die Kinder einzeichnen, wo sie gelegentlich oder häufig Lebensmittel während der Schulzeit einkaufen und welche. Ein standardisierter Aufmerksamkeitstest rundete die Untersuchung ab.
Ergebnisse: 67 Prozent nutzen die Schulkantine
Die Auswertung der Studie zeigt, dass rund 12 Prozent der Kinder übergewichtig oder adipös sind. Dieser Wert deckt sich mit den Erkenntnissen anderer deutschlandweiter Studien. 67 Prozent der Schüler gehen regelmäßig in die Schulspeisung.
„Die absoluten Zahlen zeigen, dass unter den Schülern, die regelmäßig in der Schulkantine essen, weniger übergewichtige Kinder sind als unter denen, die nicht teilnehmen. Wir konnten hier die Tendenz, keine statistische Signifikanz aufzeigen: Wer nicht an der Schulversorgung teilnimmt, hat eine höhere Chance übergewichtig zu werden oder anders herum gesehen nehmen übergewichtige Kinder seltener an der Schulspeisung teil“, sagt Peggy Ober, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin des Projekts.
Oder einmal so formuliert: Kinder, die nicht an der Schulspeisung teilnehmen, ernähren sich tendenziell schlechter.
Bezüglich des Speiseplans aus der Schulküche stellten die Forscher fest, dass sechs von zehn Anbietern mindestens 60 Prozent der Qualitätskriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung erfüllen. Diese sind zwar nicht verpflichtend, aber ein Anhaltspunkt für ein ausgewogenes Angebot. Doch auch hier können die Kinder ja wählen – und sie wählen eher nicht die gesündere Variante.
Die Schüler wählten im Mittel zu selten Menüs mit Vollkornprodukten, Gemüse und Fisch sowie zu viele Fleischgerichte, stellen die Forscher fest. Bei süßen Hauptgerichten und frittierten oder panierten Produkten hielten sie die empfohlenen Mengen ein. „Die Defizite hatten wir auch nicht anders erwartet. Im Gegenteil, wir hätten für einige Komponenten noch schlechtere Ergebnisse vermutet“, so Ober. Die Analyse zeige zudem, dass die Qualität des Essens vom Preis abhängig ist.
Hat das Frühstück einen Einfluss auf die Aufmerksamkeit?
Der Aufmerksamkeitstest sollte zeigen, ob ein vorher eingenommenes Frühstück die Leistungen in der Schule verbessert. Die Daten der Studie konnten hier keinen Effekt zeigen. Rund neun Prozent der Kinder essen meistens kein Frühstück an Schultagen, knapp sechs Prozent essen es nie.
„Wir haben gesehen, dass der Anteil übergewichtiger Schüler unter den nicht frühstückenden höher war. Unsere Querschnittsstudie kann allerdings keine Aussagen darüber treffen, was Ursache und was Folge ist. Wir können nur den Zusammenhang darstellen“, sagt Peggy Ober.
78 Prozent der Schüler bekommen Taschengeld
Laut den Ergebnissen der Studie verfügen die Leipziger Schüler im Schnitt über 15,37 Euro Taschengeld im Monat.
„Unsere Zahlen zeigen, dass die Schüler, denen viel Taschengeld zur Verfügung steht, häufiger in die umliegenden Geschäfte gehen und Lebensmittel kaufen“, sagt Dr. Tobias Lipek. Zugleich ist eine Tendenz zu beobachten: Kinder, die nicht an der Schulverpflegung teilnehmen, sind häufiger „oft“ in Läden in der Nähe der Schule gegangen.
Da Kinder dazu neigen, in Supermärkten und Fast-food-Läden eher ungesunde Waren zu kaufen, schlussfolgern die Forscher, dass eine bessere Akzeptanz und höhere Teilnahme am Schulessen zu einer verbesserten Kindergesundheit beitragen könnte.
Was freilich nur ein Teilansatz ist. Denn das Projekt hat weder das Thema der mitgebrachten Pausenverpflegung angeschnitten, noch die Thematisierung einer gesunden Ernährung in den Lehrplänen. Was auch wieder verständlich ist. Denn deutsche Bildungspolitiker halten es ja für wichtiger, Kinder auch in der Schule mit noch mehr digitalen Geräten beschäftigt zu halten und all jene Aspekte, in denen es um Menschenbildung, Kommunikation und ein gesundes Leben geht, ins Abseits zu drängen.
Die Diskussion über das Schulessen ändert daran nichts, wenn die Beschäftigung mit dem Essen und seinen Grundlagen für die Kinder selbst nicht zum Lernprozess wird.
Aber das würde sie ja zu schlechten Kunden der Supermärkte machen. Und ihre Eltern möglicherweise gleich mit.
Auf der Datengrundlage dieser Studie aufbauend soll sich eine Interventionsstudie anschließen. Denkbar wäre beispielsweise den Einfluss eines Frühstückangebots für alle Kinder in der Schule auf Übergewicht und Adipositas zu untersuchen oder verschiedene Maßnahmen zur Qualitäts- und Akzeptanzverbesserung der Schulspeisung zu testen.
Die Leipziger Schulernährungsstudie ist ein Forschungsprojekt des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und des Universitätsklinikums Leipzig und wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung finanziert. Kooperationspartner der Studie sind die Projekte Grünau bewegt sich, CrescNet sowie die LIFE-Child Studie.
Der Anteil der übergewichtigen Sachsen steigt seit 2003 immer weiter an
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