Es ist ein Anfang. Das Thema Bürgerversicherung hat die SPD zwar nun seit ein paar Jahren auf der Agenda, scheitert aber bei der Durchsetzung immer wieder, oft genug auch an sich selbst. Aber das Thema ist nicht vom Tisch. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat zum Thema einfach mal einen Arbeitskreis nachdenken lassen. Ist nun einmal so: Wenn man nicht mehr weiter weiß ... Herausgekommen sind zumindest Ideen für einen „Übergang zur Bürgerversicherung“.

Denn die Zeit ist reif. Das augenblickliche System der Krankenversicherung ist gerade dabei, in ein Schuldendebakel zu laufen. Nicht weil Krankenversorgung in Deutschland so teuer ist, sondern weil viele Regierungen in den vergangenen 30 Jahren am System so sehr herumgemurkst haben, dass der solidarische Versicherungseffekt kaputt ist und vor allem Wenigverdienende deutlich über ihre Leistungsgrenzen hinaus belastet werden. Das System ist nicht mehr gerecht.

Was übrigens dazu führt, dass auch immer mehr Menschen zu Schuldnern der Krankenkassen werden, weil sie sich die Beitragssätze nicht mehr leisten können.

Der Befund in einer kurzen Übersicht:

„Insbesondere die Tatsache, dass die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Einkommen nicht mit der des Bruttoinlandprodukts (BIP) Schritt hält, führt zu regelmäßigen Finanzierungsdefiziten in der GKV“, stellen die Autoren des jetzt von der FES vorgelegten Positionspapiers „Der Weg zur Bürgerversicherung“ fest. GKV steht dabei für Gesetzliche Krankenversicherung, PKV ist die private.

Und eigentlich hätten sich vernünftige Politiker denken können, was passiert, wenn Niedriglohn und prekäre Beschäftigung zur Grundlage einer ganzen Reihe sogenannter Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes gemacht werden: Die Betroffenen können die starr festgelegten Sätze der Krankenkasse entweder nicht mehr bezahlen – oder sie legen immer höhere Anteile ihres Einkommens dafür hin und müssen im Gegenzug ihren Lebensstandard drastisch senken. Bis es nicht mehr geht. Denn andere Institutionen (Vermieter, Stromanbieter, Rentenkasse usw.) wollen ja auch ihr Geld. Zahlemann und Söhne. Nur der „Schuldner“ soll irgendwie mit dem Rest leben können. Das funktioniert schon mathematisch nicht.

„Diese Finanzschwäche ist auf die immer noch hohe Langzeitarbeitslosigkeit sowie auf Struktur- und damit auch Machtverschiebungen am Arbeitsmarkt zurückzuführen“, beschreiben die Autoren ein Phänomen, das am Wochenende sogar der „Stern“ in einem erstaunlich umfangreichen Beitrag aufgegriffen hat. (Link direkt unterm Text). „Sie haben im Wesentlichen zu einem Anwachsen des Niedriglohnsektors (auch Mini- und Midijobs) geführt und wirken sich negativ auf die Lohnentwicklung insgesamt aus.“

Und nicht nur bei den in den prekären Bereich verschobenen Einkommen hat man die Einnahmeseite der Krankenversicherungen ins Minus gedrückt. Väterchen Staat war ja auch der Meinung, dass Menschen, die in Arbeitslosigkeit geraten, keine richtige Rentenversicherung und auch keine ordentliche Krankenversicherung mehr brauchen: An beiden Punkten hat der Bundesfinanzminister einfach radikal den Rotstift angesetzt. Und das kostet die Krankenkassen ebenfalls Millionenbeträge.

„Diese arbeitsmarktbedingte Finanzschwäche wird einerseits durch den Abbau von Leistungen in anderen sozialen Sicherungssystemen (Verkürzung des Arbeitslosengeldes oder Einschnitte bei der gesetzlichen Rentenversicherung) und andererseits durch die unzureichende Kompensation für die GKV-Finanzierung hinsichtlich der Bezieher_innen von Transferleistungen verstärkt. Gerade für ALG-II-Bezieher_innen werden vom Bund keine angemessenen Krankenversicherungsbeiträge gezahlt“, schreiben die Autoren des Positionspapiers. Logische Folge: „Das Arbeitsmarktrisiko wird so auch auf die GKV übertragen.“

Nächster Baufehler in einem System, in das vor Jahren unbedingt auch noch ein privater Versicherungsmarkt hineingedrückt werden musste, der seine Mitglieder mit niedrigen Versicherungssätzen köderte: „Neben den genannten arbeitsmarktbedingten Einnahmeproblemen wird die Finanzierung der GKV zudem durch die Konkurrenz der PKV geschwächt, auch deshalb weil die PKV mit anderen Rahmenbedingungen arbeitet.“

Und während die Menschen mit niedrigen Einkommen ziemlich hohe Prozentsätze monatlich an die Krankenkasse abführen müssen, ist für die Besserverdienenden ein Deckel eingebaut: „Die Versicherungspflichtgrenze führt zudem zu einer politisch willkürlichen Einschränkung der solidarischen Finanzierung für die Gesundheitsversorgung von 90 Prozent der Bevölkerung. Beamt_innen sowie Versorgungsempfänger_innen haben unabhängig von ihrem Einkommen de facto keine Möglichkeit, die private Krankenvollversicherung zu verlassen.“

Schon das würde reichen, dass sich ein leidlich mathematisch gebildeter Mensch an den Kopf fasst und fragt: Glaubten die verantwortlichen Politiker tatsächlich, dass sie damit ein stabiles System erhalten? Gerade die Leistungsstärksten 10 Prozent konnten sich der solidarischen Finanzierung entziehen. Und das in einer Zeit, in der auch noch die steuerlichen Belastungen dieser Hochverdienenden gekappt wurden. Da versteht man dann die Debatte um den politischen Einfluss der Reichen in Deutschland, die seit den Textkürzungen im „Armutsbericht“ der Bundesregierung durch die Medien tobt.

(Über die möglichen Gründe schrieb am Wochenende der „Spiegel“, Link ebenfalls unterm Text.)

Mehrere Bundesregierungen haben die Last der Steuern und Abgaben in den letzten Jahren umgeschichtet auf die Schultern der Kleinverdiener, während hohe Einkommen immer weiter entlastet wurden und Einkommen außerhalb der Lohnabhängigkeit teilweise komplett verschont wurden.

Was wieder einen Baufehler im Versicherungssystem verstärkt: „Auch innerhalb der Gemeinschaft der gesetzlich Versicherten ist bei der Finanzierung ein Gerechtigkeitsdefizit nicht zu übersehen. So wird bei der Bemessung des Versichertenbeitrags die höhere wirtschaftliche Leistungskraft nur in begrenztem Umfang, nämlich nur bis zu der BBG berücksichtigt. Sie beträgt gegenwärtig monatlich 4.237,50 Euro (bzw. 50.850 Euro pro Jahr). Darüber hinausgehende Arbeitseinkünfte sind beitragsfrei. Bei den Belastungen für die Versicherten kommen einkommensunabhängige Zuzahlungen für Medikamente, Krankenhausaufenthalt sowie ambulante Pflege etc. hinzu. Zuzahlungen und die Beitragsbemessungsregeln führen insgesamt zu einer regressiven Belastung der Versicherten. Untere und mittlere Einkommen werden dadurch stärker belastet.“

Und dann wird im Positionspapier zumindest erwähnt, dass vor allem die gewachsene Zahl der (Solo-)Selbstständigen unter der Schere leidet, dass die Krankenkassenbeiträge immerfort stiegen, ihre eh schon niedrigen Einkommen aber nicht.

Ergebnis: „Nach einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts (WIdO) der AOK sind 2015 die Beitragsschulden der Versicherten in der GKV auf 4,48 Milliarden Euro gestiegen – 1,24 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Insbesondere die wachsende Zahl von (Solo)-Selbstständigen schultert eine erhebliche Beitragslast. Sie müssen in der GKV durchschnittlich 46,5 Prozent ihrer Einkünfte für die Versicherung aufwenden. In der PKV sind es in dieser Gruppe sogar 58 Prozent. Wissenschaftlerinnen sehen dafür im dualen Versicherungssystem keine gangbare Lösung.“

Der Arbeitskreis hat übrigens auch keine vorgeschlagen. Er hat nur versucht, die Schritte vorzuschlagen, wie man den Übergang zu einer richtigen Bürgerversicherung angehen könnte.

Dazu gehören:

– Prävention wird nicht über Kassenbeiträge, sondern über Steuern bezahlt.

– Arbeitsgeber zahlen (wieder) die Hälfte der Krankenversicherung.

– Für Gesetzliche und Private Krankenkassen wird eine einheitliche Vergütungsordnung eingeführt. Schluss mit den Sonderrechten für Privatpatienten.

– Alle Bürger, nicht nur die schönen 10 Prozent, haben ein Wahlrecht zwischen privater und gesetzlicher Kasse. Beamte übrigens auch.

– Und die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung wird auf das Niveau der Rentenversicherung erhöht. Der Beitragssatz für alle wird entsprechend gesenkt.

In der Rentenkasse liegt die Beitragsbemessungsgrenze aktuell bei 6.200 Euro monatlich im Westen und bei 5.400 Euro im Osten. In der Kranken- und Pflegeversicherung liegt sie mit aktuell 4.237,50 Euro deutlich niedriger.

In eigener Sache: Für freien Journalismus aus und in Leipzig suchen wir Freikäufer

https://www.l-iz.de/bildung/medien/2016/11/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar