Dass Lehrer immer wieder und häufiger über Schüler klagen, deren Aufmerksamkeit in kritischem Maße defizitär ist, ist ein allseits bekanntes Phänomen, dem man gern mit der Diagnose ADHS und dem Medikament Ritalin beizukommen versucht. Unsere, von Hochtechnologie durchdrungene Gesellschaft, produziert in erhöhtem Maße Individuen, die einem Aufmerksamkeitsregime unterworfen sind, welches die herkömmliche Wiederholungslogik des Homo sapiens torpediert und allmählich zermürbt.
Die ruckartige Aneinanderreihung von Informationen in immer schnelleren Abläufen macht das gemeinsame Verweilen bei einem Dritten immer schwerer und intensiviert das, wovon Technik eigentlich erlösen sollte: Stress! Die sogenannte Bildmaschine enthält immer schon vor, was sie scheinheilig verspricht.
In der Schule zeigt sich dieses Phänomen in Form von Schülern, die den Unterricht stören, aber auch in Form von Schülern, die einschlafen. Auch hierbei handelt es sich um ein Aufmerksamkeitsdefizit, mit dem Schule und Schüler sich auseinanderzusetzen haben. Sich mit diesem Phänomen zu befassen, Mittel und Wege aus diesem Dilemma zu finden, oder das Schlimme weniger schlimm zu machen – dafür kann Schule als Notwehrmaßnahme gegen die Aufmerksamkeitsdefizitkultur in vielen Bereichen wirken, erläutert der Philosoph Christoph Türcke in seinem neuesten Buch. Aber auch andere Wissenschaften beschäftigen sich mit dem Phänomen. Dazu gehört natürlich in erster Linie die Pädagogik.
“Das Grundphänomen ist ADHS mit oder ohne Hyperaktivität,” sagt Kerstin Popp, Professorin im Bereich der Verhaltensgestörtenpädagogik der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. In der Schule gibt es ein großes Spektrum an unterschiedlichen Kindern, die nicht alle rituell angeleitet werden müssen, so Popp weiter. Bei solchen Kindern sind die rituellen Strukturen der Wiederholung und Selbstregulierung schon so verinnerlicht, dass sie ohne weiteres angewendet werden können. Bei der Mehrzahl ist eine Strukturierung allerdings nötig, um Aufgaben zu lösen und im Leben zurechtzukommen.
Unter Strukturen versteht Popp beispielsweise einen geregelten Tagesablauf, der auch mit Ausnahmen zurechtkommt. In der Schule heißt das, dass Unterricht der Unterricht ist und eine Pause eine Pause. Ebenso muss die Erfüllung von Grundanforderungen gewährleistet sein. “Wer seinen Ranzen nicht selbstständig und vollständig packen kann, dem können Kontrollzettel eine große Hilfe sein,” so Popp.
Damit Kinder lernen in einer bestimmten Abfolge zu denken, müssen oftmals die vielen kleinen Ablenkungen minimiert werden, um mit den Schülern ein gewisses Maß an Selbstinstruktion einzuüben, um ihnen einen Rahmen zu geben, damit sie ihren eigen Weg finden können.
Hierbei ist es aber auch an manchen Stellen notwendig, die Starrheit der Denkabfolgen ändern um Neues zu entdecken, so Popp. Dafür brauchen Kinder aber eben gerade die Sicherheit des Wiederholbaren, um sich in diese Praktik einüben zu können. “Es bedarf der Ritualisierung, um den Kindern den Einstieg in das schulische Lernen zu erleichtern. Ich halte es allerdings nicht für das Allheilmittel.” Kinder könnten durch manche Ritualisierungen zu Hyperaktivität getrieben werden, so Popp. Der übermäßige Gebrauch audiovisueller Reize in Schule und Unterricht, die nicht mehr Highlight sondern Alltag, nicht Unterstützung, sondern reiner Selbstzweck ist, hat sicherlich etwas mit den pathologischen Strukturen einer regressiven Wiederholungskultur gemeinsam, gehört aber nicht in die Kategorie des Rituals.
In den individuellen Unterschieden der Schüler liegt eine besondere Herangehensweise der Lehrerkräfte, die jedem Schüler in seinen jeweiligen Fähigkeiten ernst- und wahrnimmt. “Der Lehrstoff soll für alle je individuell interessant gestaltet werden und Techniken gelehrt werden, so dass die Kinder sich den Lehr-/Lernstoff selbst erschließen können,” erklärt Popp. Dass dies nicht überall pädagogische Maxime ist, sieht die Förderpädagogin als Defizit der Lehre. “Alle Kinder können gemeinsam trotz ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen unterrichtet werden. Sie brauchen nur einen individuellen Zugang und ein individuelles Maß.”
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Eine Möglichkeit eines solchen gemeinsamen Unterrichtens bei Anerkennung der Differenzen, ist der Wochenplan, den Popp trotz massiver Kritik verteidigt.
“Der Wochenplan ist dazu da, dass man individuell und differenziert arbeiten kann,” erklärt Popp. “Strukturlose Wochenpläne, mit ständigen Änderungen und ohne Wiederholungen innerhalb des Planes, sind kontraproduktiv und verstärken die Planlosigkeit,” ergänzt sie. Die Kinder müssen zu den Plänen hingeführt werden, so dass der Plan ihr eigener wird und somit Strukturen bildende Hilfe leisten kann. Dass fächerübergreifende Wochenpläne nur schwer durchzusetzen sind, erschwert die Vorgehensweise zusätzlich. Oft gibt es, so Popp, viele Pläne zugleich, dann wieder benutzt ein Lehrer Wochenpläne gar nicht. Das Hin und Her verwirrt mehr, als das es hilft.
Der Wochenplan müsse als Ritual entwickelt werden, so dass das Kind damit lernen und seine eigenen Fähigkeiten steuern kann. Ebenso biete er viele Möglichkeiten des sozialen Lernens und der Ermutigung und werde den unterschiedlichen Leistungsvermögen der Schüler gerecht. Auch die Möglichkeit der Wochenreflexion sieht Popp gegeben. All das muss allerdings vom Lehrer gesteuert und mit Leben gefüllt werden.
Auf der Grundlage individueller Förderung muss auch der Lehrer diese Praktiken gelernt, verstanden und analysiert haben, um anwenden zu können, was Schüler auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet. Selbstbestimmtes Leben ist für Popp eine vordergründige und förderungsbedürftige Komponente schulischen Lernens und Lebens mit dem Ziel, die eigene Fähigkeiten maximal ausleben und anwenden zu können. “Die Schule ist hierbei der Rahmen, in dem sich selbstbestimmtes Leben und Persönlichkeit, die über dem Wissen öfter verloren geht, entwickeln kann,” so Popp.
Nietzsche bezeichnete Erziehung dereinst als ein Mittel, Ausnahme zu ruinieren um der Regel den Weg zu bereiten. Der in Röcken geborene Nietzsche meinte nichts weniger, als dass die pure Regelgläubigkeit und Konformismus nichts Gutes bedeuten kann und das Unglück verewigt.
Ob das, was in der Theorie hier so utopisch schön daher kommt, der realen Praxis entspricht, mag jeder auf der je eigenen Vorstellung von Selbstbestimmung selbst beurteilen. Allein die Tatsache, dass in Hauptschulen Schüler das korrekte Ausfüllen des ALG II-Antrags gelehrt bekommen, zeigt, dass Schule an vielen Stellen Symptome bekämpft, deren Ursache sie noch nicht verstanden hat, weil sie systemimmanent dem Status quo verpflichtet ist, mit dem staatlichen Auftrag, demokratische Bürger zu erziehen, die nicht unbedingt mündig sein sollen.
Hyperaktiv! Christoph Türcke, CH Beck Verlag 2014, 9,95 Euro
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