82,5 Prozent Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen 2025: Das ist ein mehr als erfreulicher Ausdruck eines starken Interesses der Bรผrger/-innen Deutschlands an der zukรผnftigen Zusammensetzung des Bundestages und der sich daraus ergebenden Mehrheit zur Bildung der neuen Bundesregierung sowie an der gesellschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands.
Die hohe Wahlbeteiligung verleiht dem Wahlergebnis ein besonderes Gewicht. Das gilt fรผr alle Parteien โ insbesondere auch fรผr die, die wie die SPD zu den Wahlverlierern gehรถren. Sie kรถnnen sich nicht mit dem Hinweis herausreden, die sog. Stammwรคhler seien zu Hause geblieben, es hรคtte also an der mangelnden Mobilisierung gelegen. Die Wahlgewinner kรถnnen fรผr sich eine hohe demokratische Legitimation ihres Ergebnisses in Anspruch nehmen.
Die erfreulich hohe Wahlbeteiligung wird flankiert von einer groรen Akzeptanz sowohl des Wahlverfahrens wie des Wahlergebnisses. Es gibt im Gegensatz zu den USA keine nennenswerten Zweifel daran, dass diese Wahl den Erfordernissen des Grundgesetzes genรผgt: allgemein, frei, geheim. Auch das ist ein Erfolg fรผr die Demokratie und ein hoher Wert. Daran รคndert sich auch nichts dadurch, dass 23 Wahlkreisgewinner/-innen nicht auf diesem Weg in den Bundestag einziehen kรถnnen.
Das alles kann nicht davon ablenken, dass das Wahlergebnis nicht nur im Blick auf die SPD katastrophal und mehr als beunruhigend ist โ und das unabhรคngig davon, dass ich mir angesichts des Scheiterns der FDP und des BSW an der Fรผnf-Prozent-Hรผrde eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen kann und dass ich mich รผber den Wiedereinzug der Partei DIE LINKE durchaus freue.
Die FDP hat sich vor allem durch ihr zerstรถrerisches Agieren in der Ampelkoalition als รผberflรผssig erwiesen. Das BSW hat sich durch ihr AfD-affines Programm und die One-Woman-Show selbst ins Abseits gestellt. DIE LINKE hat es geschafft, mit zwei kraftvoll-sympathischen Spitzenkandidat/-innen sowie einem starken, linken sozialpolitischen Programm fast 9 % der Wรคhlerstimmen zu erreichen und vor allem bei jungen Wรคhler/-innen zu punkten.
Bleiben die bittere Niederlage der SPD, der รคuรerst beschrรคnkte Stimmenzuwachs fรผr die CDU/CSU sowie das katastrophal erfolgreiche Abschneiden der AfD
Ich selbst gehรถre der SPD seit 1970 an. Schon vor 16 Jahren bei der Bundestagswahl 2009 rutschte die SPD auf ein historisches Tief ab: 23 %, ein Minus von 11,2 %. Damals wurde deutlich, dass die SPD weder mit ihrem Programm die Menschen erreichen konnte, noch รผber die ausreichende gesellschaftliche Verankerung vor Ort verfรผgte. Auรerdem blieb ihr durch eine quasi sozialdemokratische CDU-Kanzlerin kaum Raum fรผr ihre Programmatik. Stattdessen hat sich die SPD bis 2021 immer wieder an der Agenda 2010 abgearbeitet โ ohne den Erfolg der Agenda 2010 fรผr sich zu reklamieren und die offensichtlichen Gerechtigkeitsdefizite der CDU anzulasten. รhnliches hat sich jetzt in der Debatte um das Bรผrgergeld wiederholt.
Die SPD hat es zugelassen, dass auf der medialen wie politischen Ebene der Eindruck vermittelt wurde: das Bรผrgergeld (= SPD) befรถrdert das bezahlte Nichtarbeiten und trรคgt so zum Frust der Arbeitnehmer/-innen bei. Dass sich hinter der Langzeiterwerbslosigkeit von Bรผrgergeldempfรคnger/-innen ein anderer Skandal verbirgt, nรคmlich dass seit mindestens zwei Jahrzehnten jedes Jahr 50.000 und mehr Jugendliche ohne Abschluss die Schule verlassen, davon ist kaum die Rede. Auรerdem hat die SPD ihre internationale Ausrichtung im Geiste Willy Brandts zunehmend vernachlรคssigt. Die europรคische Politik wurde ohne jede Begeisterung betrieben.
รberhaupt: Die SPD vermittelt zunehmend den Eindruck, eine ermรผdete Verwalterin ihrer programmatischen Ziele zu sein. Da springt kein Funke รผber โ auch nicht bei ur-sozialdemokratischen Themen wie bezahlbares Wohnen, Rente, Pflege. Olaf Scholz wie Lars Klingbeil, sehr ehrenwerte Persรถnlichkeiten, reprรคsentieren eine SPD ohne รberzeugungs- und Begeisterungspotential. Diese Defizite traten in der Wahlkampagne deutlich zutage: alles etwas betulich โMehr fรผr Dich โ besser fรผr Deutschlandโ. Das klingt zu sehr nach einem Sonderangebot: 20 % mehr fรผr den gleichen Preis. Aber wenn das Produkt nicht begehrt ist โฆ
Am Sonntag ist die Katastrophe eingetreten: Die seit 163 Jahren demokratisch absolut verlรคssliche SPD wird von der rechtsextremistischen AfD รผberholt: 20,8 %, eine Verdoppelung des Wahlergebnisses von 2021. Die Ursache fรผr dieses Desaster ist aber weder der Zustand der SPD noch die Existenz der AfD.
Die Ursache sind Millionen Wรคhler/-innen, die der AfD ihre Stimme gegeben haben โ im vollen Wissen um ihre antidemokratische, autokratische, nationalistische Ausrichtung; im Wissen darum, dass die AfD in Demokratie- und Freiheitszertrรผmmerern wie Donald Trump, Wladimir Putin, Viktor Orbรกn ihre natรผrlichen Partner sehen; im Wissen darum, dass die AfD Europa mit der โAbrissbirneโ zerstรถren, den Euro abschaffen und zum National-Staat und zu einer homogenen Volksgemeinschaft, in der nichts Fremdes geduldet wird, zurรผckkehren will. Dafรผr haben 20,8 % der Wรคhler/-innen ihre Stimme abgegeben.
80 Jahre nach dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und des 2. Weltkrieges sehen vor allem in Ostdeutschland groรe Teile der Bevรถlkerung in der rechtsextremen AfD ihre politische Heimat. Von ihr versprechen sie sich, dass sie Ostdeutschland oder wenigstens ihren Ort, ihren Vorgarten โreinโ hรคlt. Und das Absurde: Nicht wenige derjenigen, die bei der Friedlichen Revolution 1989/90 hinter den Gardinen standen, versuchen nun mittels Stimmabgabe fรผr die AfD etwas nachzuholen, was sie damals versรคumten: eine in ihren Augen โverkommeneโ Polit-Elite aus den รmtern zu verjagen โVollende die Wende.โ
Das wird dann noch dadurch getoppt, dass die AfD insbesondere bei den Erstwรคhler/-innen groรe Erfolge hat. Bei diesen scheint kein Bezug mehr zu der Epoche deutscher Geschichte vorhanden zu sein, in der die Vorgรคnger der heutigen Rechtsextremisten Deutschland in den Abgrund gefรผhrt haben.
Der Erfolg der AfD wurde noch dadurch verstรคrkt, dass im Wahlkampf das Thema in Medien wie bei der CDU/CSU in den Vordergrund geschoben wurde, das die AfD schon immer zu ihrem Hauptnarrativ gemacht hat: die sog. illegale Migration. Die AfD hat das Motto von Horst Seehofer (CSU) โDie Migration ist die Mutter aller Problemeโ nicht nur propagandistisch umgesetzt. Sie hat mit Erfolg betrieben, dieses allen anderen aufzudrรผcken. Damit war das Thema Migration ganz im Sinne der AfD negativ, mit Angst und Vorurteilen besetzt.
Alle gesellschaftlichen Problemen, insbesondere die Kriminalitรคt, konnte die AfD auf die Migration zurรผckfรผhren โ und die CDU/CSU wie viele Medien mach(t)en fleiรig mit. Die Notwendigkeit und die positiven Folgen der Migration wurden kaum noch thematisiert. Wenn man aber wie die CDU/CSU das Narrativ der AfD bedient, dann kann man selbst davon nicht profitieren. Den Erfolg fuhr allein die AfD ein โ mit fatalen Folgen fรผr den Zusammenhalt in einer diversen Gesellschaft.
Denn wenn Migration nur noch als Bedrohung angesehen wird und Geflรผchtete als potentiell kriminell verdรคchtigt werden, wenn schwere Straftaten von Migranten zur Abschiebungshetze gegen Auslรคnder missbraucht werden, dann begibt man sich auf die Gewaltebene der Straftรคter und verfolgt die fatale Strategie โProblemlรถsung durch Problemvernichtungโ.
Und noch etwas konnte sich die AfD zunutzemachen: die Strategie der bewussten Lรผge und der Umwertung der Werte โ also das, was derzeit die Trump-Musk-Bande bis zum Erbrechen praktiziert und was zum Wesen des Faschismus gehรถrt. Was vor 90 Jahren der โVolksempfรคngerโ war, sind heute die von den Trump-Getreuen kontrollierten, sogenannten Sozialen Netzwerke.
Fast alles, was die Kanzlerkandidatin der AfD Alice Weidel im Wahlkampf von sich gegeben hat, war frei erfunden, gelogen und widersprach jeder Faktenlage. Dieses, jedes Vertrauen zersetzende Verfahren wird sehr bewusst angewendet โ und verfรคngt auch dank der sog. sozialen Medien bei Millionen Menschen.
Warum aber fallen so viele Menschen auf diese Propaganda herein?
Ich vermute, hier wirkt sich aus, dass uns in der Vielfalt unserer Gesellschaft ein allgemein akzeptierter Wertekanon abhandengekommen ist, bzw. dieser zunehmend durch Verfeindungspropaganda ersetzt wird. Ebenso trรคgt der Bedeutungsverlust der Kirchen dazu bei, dass Werte wie Zusammenhalt, Ehrfurcht vor dem Leben, Barmherzigkeit verkรผmmern, die Menschenwรผrde (Artikel 1 des Grundgesetzes) als absoluter Maรstab zur Disposition gestellt wird und dafรผr diffuse Werte wie โMรคnnlichkeitโ oder โDeutschseinโ ins Vakuum gestellt werden.
Mehr noch: Wenn wir derzeit bedauern, dass eine Regel basierte Politik von Trump und Putin verlassen wird, um ihre nationalistisch-imperialen Interessen durchzusetzen, dann sollten wir uns bewusst sein, dass auch in unserer Gesellschaft ein Regel- und Werte basiertes Zusammenleben nicht mehr selbstverstรคndlich ist. Auch auf diesem Hintergrund ist das nicht berauschende Wahlergebnis fรผr die CDU/CSU erklรคrlich. Denn in ihrem konservativ-bรผrgerlichen Programm haben viele Wรคhler/-innen nicht die Alternative zur Ampel-Koalition gesehen. Ihnen ist die CDU zu demokratisch, zu weltoffen, zu westlich.
Noch einmal: die AfD wurde in einer demokratischen Wahl von 20,8% der Bรผrger/-innen gewรคhlt, die sich an der Bundestagswahl beteiligt haben. Aber damit wird aus der AfD keine demokratische Partei. Der freiheitliche Rechtsstaat lรคsst zu, dass Feinde der Demokratie ins Parlament gewรคhlt werden. Doch diese Mรถglichkeit verpflichtet niemanden dazu, die AfD als demokratische Partei anzusehen. Es wird nun darauf ankommen, die Menschen davon zu รผberzeugen, dass Parteien wie die AfD am Ende nur verbrannte Erde hinterlassen. Man sollte meinen, das zumindest in Deutschland diese Einsicht wรคchst, bevor die AfD das umsetzt, was Deutschland und Europa zur verbrannten Erde werden lรคsst.
Bitterer Erfolg: Deutschland steht nicht vor einer Machtรผbernahme der Rechtsnationalisten โ Gott und dem Wรคhler sei Dank!!! Aber wie alles ist auch dieses keine Garantie, dass dies so bleibt. Es wird darauf ankommen, dass jetzt die Werte des Grundgesetzes, das Primat des Rechtsstaates vor politischer Opportunรคt und gesellschaftliche Vielfalt geachtet und gepflegt werden. Denn ohne diese Pfunde der Demokratie werden Probleme geschaffen, aber nicht gelรถst.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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Es gibt 6 Kommentare
Naja, @Kathrin, wenn die Kinder aufs Gymnasium gehen, wird man im Geschichtsbuch Klasse 10 natรผrlich nichts zum Nationalsozialismus finden. Das ist in Klasse 9 und 11/12 dran. Schรถn zu erfahren, dass wieder allein die Schule Schuld trรคgt. Das Blรถd- und Faulheit belohnende gesellschaftliche Umfeld, in dem Kinder mit Konsumgรผtern ruhig gestellt werden und schlau sein โnerdyโ ist, geschenkt. Welche Ziele hat diese Gesellschaft eigentlich, auรer Unterhaltung und Wirtschaftswachstum?
Warum AfD von so vielen Erstwรคhlern gewรคhlt wurde? Protest, vielleicht. Wogegen? Gegen eine Politik die einschlรคfernd wirkte. Eine Wirtschaft, die auch irgendwie nicht so recht von der Stelle kommt.
Und warum wรคhlen so viele junge Leute diese unsรคgliche Partei? Wissen die denn nicht, was im โTausendjรคhrigen Reichโ geschah, wie es begann? Nein, wissen sie nicht. Guckt in die Geschichtsbรผcher eurer Kinder und Enkel in der 10. Klasse und staunt, was sie zu lernen bekommen.
Der Nationalsozialismus kommt vielleicht im Abitur vor, irgendwann.
Es liegt an uns, an den Eltern und Groรeltern und wo vorhanden auch den Urgroรeltern, immer wieder darรผber zu reden. Nicht von Uropa Rudis Heldentat auf dem Feld der Ehrenetappe, sondern von dem tรคglichen Horror des Krieges, von den schrecklichen Schlachten, den Entbehrungen des tรคglichen Lebens, den Verlusten in beinahe jeder Familie, von Ausgebombtsein, Flucht (ohja, so mancher unserer Vorfahren war Flรผchtling im eigenen Land!) Hunger, Kohlenklauen, Lebensmittelknappheit, Lebensmittelmarken und Schwarzmarkt โฆ
Davon findet man in heutigen Geschichtsbรผchern kaum etwas. Das finde ich nicht gut. Sowas fรถrdert das Vergessen. Wir erleben es gerade hautnah.
Ach Herr Freitag, in meinem jetzt doch schon lรคngerem Leben habe ich so viel Schmรคhungen erlebt, In der DDR war ich der Enkel eines Kulaken, um die Wende Konterrevolutionรคr, spรคter Kommunist, jetzt eben Nazi oder Rechter. Eigentlich gehe ich mit allen ins Bett, ich bezeichne mich eben als politisch polyamor. Interessant ist immer wieder nach Nรคchte langen intensiven Gesprรคchen zu allen mรถglichen Themen die Aussage โDu bist so gebildet und so klug und bist dann doch so und so, das verstehe ich nicht.โ Das Beste ist in der Situation gar nichts zu sagen und den Verwunderten mit seiner Orientierungslosigkeit alleine zu lassen.
Das ist halt so mit den Menschen, es gehen ja auch immer noch Leute zur Kirche. Obwohl sie wissen das die beiden Kirchen jahrzehntelange von den Missbrauch von Kindern in den Kirchen gewusst und diesen gedeckt und vertuscht haben.
@gerd stefan: Herr Wolff wirft Frau Weidel und damit der AfD objektiv widerlegbare Lรผgen vor. Zurecht. Darauf baut also der Propaganda-Vorwurf auf, den Sie so leichtfertig in die Gegenrichtung zu drehen suchen. Ich denke also, Sie sollten noch einen (klรผgeren) Versuch wagen und Ihre AfD-Freundlichkeit zu begrรผnden?
im Umkehrschluss des Artikels sind die, die Blau gewรคhlt haben auf die Propaganda der selbsternannten โdemokratischenโ Parteien nicht hereingefallen.