Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich am Beginn dieses Jahres: das Gefühl des (scheinbar) Unvermeidbaren. Rational ist mir klar: Die demokratischen Parteien müssen allen Unterschieden zum Trotz bei den Bundestagswahlen möglichst eine Dreiviertel-Mehrheit erhalten, damit aus einem solchen Ergebnis eine stabile Regierung hervorgehen kann. Sie müssen einen profilierten Wahlkampf führen – und gleichzeitig die Bereitschaft signalisieren, mit anderen demokratischen Parteien in eine Koalition einzutreten können.
Dabei wird den Mitgliedern der demokratischen Parteien abverlangt, nicht hinter jedem Kompromiss den Verrat an den eigenen Zielen zu wittern.
Doch die Signale in Deutschland wie in Europa weisen derzeit in eine andere Richtung: Rechtnationalistische und demokratiefeindliche Parteien wie die AfD verfügen inzwischen über ein beachtliches Wählerpotential. In Ländern wie Frankreich, Österreich, Holland, Italien sind rechtsextreme Parteien zur stärksten politischen Kraft angewachsen. Hinzu kommt, dass über Europa hinaus der Autokratismus an Kraft gewonnen hat: Ab dem 20. Januar 2025 wird Donald Trump mit Oligarchen wie Elon Musk die amerikanische Demokratie systematisch in ein autokratisches System versuchen umzubauen – mit unabsehbaren Folgen.
Wladimir Putin in Russland, Benjamin Netanjahu in Israel, Viktor Orbán in Ungarn, Javier Milei in Argentinien werden das Ihrige dazu beitragen, dass auch viele der (noch) vorhandenen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, die dem Autokratismus im Wege stehen, beseitigt werden. Alle diese Entwicklungen kamen und kommen zustande, weil zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Mehrheit der Wähler/-innen zu diesem Ansinnen der Autokraten JA gesagt haben.
Droht dies bald auch in Deutschland? Sind wir schon an dem Punkt, da eine solche Entwicklung nicht mehr aufzuhalten, nicht mehr vermeidbar ist? Sind wir in Deutschland 2025 Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts angekommen?
Ist eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland bereit, denen per Wahl das politische Mandat zu erteilen, die die parlamentarische, repräsentative Demokratie dazu benutzen, sie langfristig abzuschaffen, die europäische Friedensordnung weiter zu zerstören und durch den Nationalismus neue Keimzellen für kriegerische Auseinandersetzungen zu schaffen – und das auf dem Hintergrund, dass die wirtschaftlichen Handlanger der Autokraten auf ihrem Gebiet die gleiche korrupte Selbstbereicherungs- und Plünderungspolitik betreiben wie ihre politischen Förderer/Zöglinge?
Manche werden solche Fragen für übertrieben halten. Aber angesichts dessen, was in den USA oder in Österreich vor sich geht, halte ich es für überfällig, dass wir uns damit jetzt auseinandersetzen – auch vor dem Hintergrund dessen, dass der Verweis auf die Verheerungen, die der nationalsozialistische Terror zwischen 1933 und 1945 über Deutschland und Europa gebracht hat, bei vielen Menschen immer mehr seine abschreckende Wirkung zu verlieren scheint.
Als vor einem Jahr in Deutschland Millionen Menschen auf die Straße gingen, um ein deutliches Zeichen gegen den Rechtsnationalismus der AfD und seine rassistisch-völkischen Bereinigungspläne zu setzen, empfanden das viele, ich auch, als ein überfälliges Votum der Bürger/-innen für die bedrohte, freiheitliche Demokratie. Leider führten die Demonstrationen nicht dazu, antidemokratische Parteien wie die AfD nachhaltig zu schwächen – und das aus zwei Gründen:
- Insbesondere die Parteien der Ampel-Koalition haben in dem Aufbegehren vieler Bürger/-innen nicht die Rückenstärkung erkannt, endlich zu einer überzeugenden Regierungspolitik zurückzukehren, durch die die Demokratie gestärkt wird.
- Durch die dauernde Übernahme von politischen Narrativen der AfD, insbesondere durch die CDU, werden die extremen Ansätze der AfD normalisiert.
Doch es wäre zu kurz gesprungen, im scheinbar Unvermeidbaren nur die Folgen eines Versagens der demokratischen Parteien zu sehen. Vielmehr wird in der Akzeptanz demokratiefeindlicher Politikansätze und in der Abkehr auch von Grundwerten der Verfassung deutlich, dass das Wertegefüge bei sehr vielen Menschen erodiert ist und zunehmend dem Opportunismus kurzfristiger Interessen untergeordnet wird. Das ist insofern nicht verwunderlich, als wertestiftende Institutionen wie die Kirchen rapide an Bedeutung und Einfluss verloren haben.
Heute wird immer wieder als Grund für das Erstarken autokratischer Bewegungen angeführt, dass viele Bürger/-innen kein Vertrauen mehr in die Politik, in die demokratischen Parteien haben. Das spielt sicher eine Rolle. Aber ich denke, der Grund ist ein anderer (zumal das Vertrauen in Politiker/-innen schon immer begrenzt war): Viele Menschen verfügen über wenig Grundvertrauen in ihr eigenes Leben – ein Grundvertrauen, das nicht abhängig ist von materiellen Lebensbedingungen und politischen Entscheidungen; ein Grundvertrauen, das sich nicht nur aus dem eigenen Selbst speist, sondern der Meta-Ebene Gott bedarf.
Dieses mangelnde Grundvertrauen hat viel damit zu tun, dass die Kirchen und ihre Glaubensbotschaft an Überzeugungskraft verloren haben, ohne dass es dafür einen Ersatz gibt. Genau dieses Vakuum bietet nun die Einflugschneise für autokratische und rechtsextreme Ideen. Diese stärken nicht das Ich des einzelnen Menschen an sich, sondern das Ich durch die Abwertung des anderen.
Das seit Jahren systematisch und international aufgebaute Netzwerk antidemokratischer, autokratischer, „illiberaler“ (Orbán) Bewegungen und Parteien basiert ideologisch auf drei Säulen: Gott, Nation, Familie. Das gilt für das Putin-Russland genauso wie für das Trump-Amerika.
- Gott wird eingesetzt als religiös-ideologische Schokoladensauce, die über alles, vor allem das Verbrecherische, gegossen wird; des Weiteren dient Gott als Chiffre für religiöse Militanz und Intoleranz;
- die Nation dient der Ausgrenzung anderer und der Identifikationsmöglichkeit der ideologisch Eingesperrten;
- die Familie steht für die Konformität der Gesellschaft, die andere Lebensformen als unnatürlich und Angriff versteht.
Es muss eigentlich nicht verwundern, dass angesichts der Komplexität politischer Vorgänge Menschen empfänglich sind für diese, auf den national überschaubaren Bereich angewendete ideologische Säulen. Aufgabe muss es also sein, zum einen das Zerstörungspotential dieser Ideologie aufzuzeigen und zu entlarven, zum andern müssen wir gesellschaftlich einen Beitrag leisten, um das Grundvertrauen des Einzelnen in sein eigenes Leben zu stärken.
Dieses ist nicht über Brot und Spiele, sondern nur über sinnstiftende, die Würde eines jeden Menschen achtende Angebote zu erreichen. Nicht nur als Kirche haben wir alle Hände voll zu tun, damit das scheinbar Unvermeidbare nicht eintritt.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und engagiert sich gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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