Es ist schon auffällig, wie selbstbezogen viele Bürger/-innen, aber auch viele Medien, das politische Weltgeschehen wahrnehmen. Da entledigen sich die Syrer/-innen, die über 10 Jahre unter einem grausamen Bürgerkrieg leiden, eines seit Jahrzehnten gegen die eigene Bevölkerung wütenden Diktators und Menschenschlächters Baschar al-Assad; da herrscht seit knapp zwei Wochen in Syrien eine grenzenlose Freude über die weitgehend friedlich errungene Freiheit und eine kaum für möglich gehaltene Aufbruchstimmung.

Und wir diskutieren dies alles unter zwei Überschriften: drohender Islamismus und – was noch bedenklicher ist: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um die in Deutschland lebenden Asylbewerber aus Syrien schnellstmöglich abzuschieben.

Warum so wenig Empathie mit den Syrer/-innen, so wenig freudige Anteilnahme am Aufbrechen der Gefängniszellen und Folterkammern in Damaskus? Warum nicht erst einmal ein erwartungsvolles Erstaunen darüber, dass Menschen in schier auswegloser Situation und, aufgerieben zwischen den Lokalmächten des Nahen Ostens und marodierenden Terrorgruppen, ihr Recht auf ein freies, selbstbestimmtes Leben erkämpfen?

Dabei ist doch das, was derzeit in Syrien geschieht, nur vergleichbar mit der Friedlichen Revolution 1989/90 in Deutschland und Osteuropa. Warum also diese Verengung auf unsere Probleme, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was unser Anteil an der Terrorherrschaft der Assads war, unser Anteil an einer rein militärischen Interventionspolitik im Nahen Osten? Liegt es daran, dass wir über Jahrzehnte die Augen verschlossen haben vor einer Politik der verbrannten Erde, die der sogenannte freie Westen in den vergangenen vier Jahrzehnten im Nahen Osten mitzuverantworten hat?

Oder ist es Folge davon, dass es bis heute keine langfristige Friedensperspektive für den Nahen Osten, dafür aber umso mehr kriegerische Interventions- und gigantische Aufrüstungspläne gibt? Sehen wir – ähnlich wie im Blick auf die Ukraine – in Ländern wie Syrien, Libanon, Irak nur Spielbälle, Manövriermassen für die Großmächte vor Ort und weltweit?

Haben wir viel zu wenig die Menschen im Blick, die genauso leben, lieben, am wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Fortschritt teilhaben wollen wie jeder andere Mensch auch und die deswegen nicht bereit sind, sich länger Terrorherrschaften unterzuordnen?

Niemand kann derzeit voraussagen, wie sich Syrien in den nächsten Wochen politisch, religiös und kulturell entwickeln wird. Das hängt vor allem davon ab, wie die jetzt führende Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) agieren wird. Aber derzeit ist deutlich zu spüren: Die Menschen wollen sich die Freiheit, die sich erkämpft haben, nicht so schnell aus der Hand schlagen lassen – weder von den politischen Akteuren in Washington, Istanbul, Moskau, Jerusalem, noch von den rivalisierenden Gruppen im eigenen Land.

Die Menschen wollen leben, ohne dass ihnen die Bomben um die Ohren fliegen oder sie von religiösen Fundamentalisten geknechtet werden! Sie suchen Bedingungen, unter denen sie sich frei bilden und entwickeln können. Diese Sehnsucht vieler Menschen in Syrien gilt es zu unterstützen, zu fördern – auch dadurch, dass wir in Deutschland und Europa respektvoll mit den Syrer/-innen umgehen, die in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere 2014/15, bei uns Schutz gesucht und gefunden haben.

Die beschriebene Selbstbezogenheit hat uns auch relativ emotionslos die Vorgänge in Südkorea beobachten lassen. Dabei ist für das seit über 70 Jahren in Nord- und Südkorea getrennte Land die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit ein Vorgang, der vor allem die Menschen in Südkorea brennend interessiert und immer wieder die Hoffnung auf ein vereintes Korea nährt. Jedoch: Die Demokratie in Südkorea ist noch relativ jung. Erst Ende der 80er Jahren konnten sich die Menschen in Südkorea von der Militärdiktatur befreien.

Diese Demokratie ist in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 2024 von den Bürger/-innen Südkoreas verteidigt worden – gegen den inzwischen suspendierten Präsidenten Yoon Suk-yeol. Er wollte mit der Ausrufung des Kriegsrechtes gegen das demokratische Südkorea putschen. Das misslang – aber nur deswegen, weil die Bürger/-innen und die demokratischen Abgeordneten des Parlaments entschlossen und geistesgegenwärtig Widerstand geleistet haben – ehe der Präsident durch das Außerkraftsetzen aller demokratischen Grundrechte und Institutionen hat Fakten schaffen können.

Auch hier die Frage: Warum geschah dies gerade jetzt und mit so absurden Begründungen, die demokratische Parlamentsmehrheit habe sich mit Nordkorea verbündet? Die Vermutung liegt nahe: Yoon Suk-yeol sah durch die bald einsetzende Präsidentschaft Donald Trumps einen günstigen Moment gekommen, die Demokratie in Südkorea zu beenden und ein autokratisches System zu installieren. Doch dieser Zusammenhang spielt im öffentlichen Diskurs über die Vorgänge in Seoul kaum eine Rolle.

Warum? Offensichtlich ist man in Deutschland und in Europa darum bemüht, eine im Januar beginnende politische Katastrophe zu normalisieren. Diese besteht darin, dass mit Donald Trump ab dem 20. Januar 2025 ein krimineller Dauerlügner, Demokratiezerstörer und Menschenrechtsfeind Präsident der USA sein wird.

Dieser Katastrophe können wir, ohne Schaden zu nehmen, begegnen, wenn wir uns zwei Dinge bewusst machen:

  • In den politischen Bewegungen in Syrien wie in Südkorea lassen sich die Hoffnungszeichen erkennen, die einstmals auch von der Friedlichen Revolution ausgingen: der Aufbruch zur Demokratie und die Absage an Gewalt.
  • Die Geburt Jesu und damit die neue Wirklichkeit von Barmherzigkeit, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Ehrfurcht vor dem Leben und der damit verbundene neue Maßstab für das Leben ereigneten sich mitten im Gewaltsystem des römischen Despoten Kaiser Augustus und des Kindermörders König Herodes. Damit sollte angezeigt werden: Es gibt eine realistische Alternative zur „Pax Romana“, also zu den Gewaltsystemen der Diktatoren und Autokraten.

Es wirkt sehr disziplinierend und befreiend, sich gerade am Ende dieses Jahres diese andere, die Bethlehem-Perspektive anzueignen, um einen neuen Blick auf das zu bekommen, was dem Frieden dient.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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