Wann immer ein unfassbares Verbrechen geschieht und nicht nur Politiker/-innen abseits des Täters sofort nach Schuldigen (das ist dann meist der politische Gegner) suchen und nach neuen Gesetzen rufen, mahnt mich seit über 20 Jahren ein bedeutender Satz des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau (1931–2006, Bundespräsident 1999–2004) zum Innehalten: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“
Das rief Rau bei der offiziellen Trauerfeier für die bei einem Massaker am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 ermordeten 16 Menschen aus. Damals erschoss der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser elf Lehrer/-innen, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizeibeamten und schließlich sich selbst.
Zugegeben: Angesichts des unerträglich grausamen Verbrechens der Todesfahrt durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt, welcher fünf Menschen zum Opfer fielen, mag es zunächst schwerfallen, sich einem solchen Gedanken wie dem von Johannes Rau erneut zu öffnen.
Natürlich muss nach einem Verbrechen wie dem von Erfurt 2002 oder jetzt in Magdeburg an erster Stelle das Gedenken an die Opfer, die Trauer um gewaltsam ausgelöschtes Leben und die Solidarität mit den von unsäglichem Leid Betroffenen stehen. Natürlich darf an einem Verbrechen nichts beschönigt und relativiert werden. Aber gerade darum erweist sich das Rau-Diktum in zweifacher Hinsicht als unerlässliche Orientierungshilfe:
- Es besagt zum einen, dass auch der brutalste Verbrecher Anspruch auf Menschenwürde hat. Es gibt eben keine Unmenschen, wohl aber unmenschliche Taten. Jedes Kapitalverbrechen, jede Gewalttat ist ein unerträglicher Angriff auf die Würde eines anderen Menschen. Wenn wir diese Würde dem Verbrecher/Täter verweigern und aus ihm ein Monster, einen „Unmenschen“, stellen wir uns auf die gleiche Ebene, auf der ein Verbrecher wütet, und relativieren gerade dadurch seine Tat.
- Zum anderen bringt der Gedanke von Johannes Rau zum Ausdruck: Jeder Verbrecher/Täter zeigt auf, wozu ein Mensch fähig und in der Lage ist. Jedes Gewaltverbrechen gegen Menschen ist völlig unabhängig von seiner ideologisch-religiösen Rechtfertigung immer Ausdruck von der Anmaßung eines Menschen oder einer politisch-religiösen Bewegung, darüber bestimmen zu können, wer ein Recht zu leben hat und wer nicht. Dieser Anmaßung gilt es sich zu erwehren. Dem dient vor allem Erziehung, Bildung und die Vermittlung der Grundwerte des Glaubens und der Verfassung – eine der Hauptaufgaben der Kirchen. Ich nenne hier vor allem die Ehrfurcht vor dem Leben: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer)
Im Konkreten folgt aus dem Rau-Diktum: Ein Mensch wird nicht zum Verbrecher, weil er oder sie als Mann oder Frau geboren wird, schwarzer oder weißer Hautfarbe, Christ oder Muslimin, Deutscher, Syrerin, Amerikaner, Palästinenser oder Israeli ist. Es sind allein die Tat und die einem Verbrechen zugrundeliegende Anmaßung, sich zum Richter über Leben und Tod aufzuspielen, die einen Menschen zum Verbrecher werden lassen.
Das gilt auch für Terroristen oder im konkreten Fall für den Arzt Taleb Al Abdulmohsen, der verantwortlich ist für das ungeheure Verbrechen in Magdeburg. Aber: Taleb Al Abdulmohsen ist nicht deswegen ein Verbrecher, weil er aus Saudi-Arabien stammt und seit 2006 als Geflüchteter mit Duldungsstatus in Deutschland lebt. Seine Todesfahrt durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 und seine Absicht, möglichst viele Menschen umzubringen, machen ihn zum Verbrecher.
Wenn ein solches Verbrechen dann noch befeuert wird durch menschenverachtende Propaganda, Wahnvorstellungen und einem Denken, das bestimmten Menschengruppen per se das Lebens- und Existenzrecht abspricht, dann wird daran nur sichtbar, wie gefährlich ideologisch-religiöse Vernebelung und jede Form von Relativierung der Menschenwürde sind.
Natürlich ist es angemessen zu prüfen, wie Menschen am Ausleben ihrer kriminellen Energie besser und früher gehindert werden können. Natürlich ist es wichtig, dass kritisch aufgearbeitet wird, ob Behörden den Arzt Al Abdulmohsen durch früheres Eingreifen von seiner Tat hätten abhalten können. Das Wichtigste aber ist und bleibt, dass wir alle noch bewusster und tatkräftiger an dem festhalten, was Taleb Al Abdulmohsen zerstören wollte: die Würde des Menschen. Sie ist unteilbar.
Wenn in Erfurt sich jedes Jahr am 26. April die Angehörigen des Gutenberg-Gymnasiums zum Gedenken an das Massaker zur Andacht in der Andreaskirche treffen, werden nicht nur 16 Kerzen für die Opfer des Massakers angezündet. Auch eine 17. Kerze brennt für den Täter. Dadurch wird deutlich: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“
Wer sich das zu eigen macht, der hat für alle anstehenden (Wahl-)Entscheidungen einen sehr verlässlichen Maßstab. „Prüft alles und behaltet das Gute.“ (Die Bibel: 1. Thessalonicher 5,21) heißt die Losung für das neue Jahr.
Ja, wer den Maßstab des Guten, der Menschenwürde, an die Trumps, Musks, Putins, Weidels dieser Welt und an ihre Claqueure in Redaktionsstuben, in der Kantine oder am Gartenzaun anlegt, behält die Wegsteuer und fällt nicht auf deren den einzelnen Menschen verachtenden, vernichtenden Grundton herein.
Denn all die Genannten folgen ihrem irren-hybriden Anspruch, die Welt, vor allem aber ihre eigenen Interessen „retten“ zu können, indem sie der Menschlichkeit eine Absage erteilen, die Menschenwürde selektiv anwenden und damit das betreiben, was schon immer das Geschäft von Faschisten war: die Umwertung der Werte.
Klar, dass sie dies nur machen können, indem sie die politischen Bedingungen der Menschenwürde, nämlich die freiheitliche Demokratie und den sozialen Rechtsstaat, beseitigen. Dem gilt es mehr denn je zu widerstehen.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und engagiert sich gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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