Anfang November 2024 war ich vom Hospiz Villa Auguste Leipzig zu einer Podiumsdiskussion mit Vertreter/-innen verschiedener Religionen zu diesem Thema eingeladen. Zu Beginn habe ich als Impuls einige grundlegende Ausführungen zum biblischen Verständnis von Leben und Tod gemacht. Die überarbeitete Fassung folgt.
Ausgangslage
Dass wir sterben müssen – es ist die natürlichste Sache der Welt und gleichzeitig die größte Katastrophe. Dass am Ende des Lebens der Tod steht – es ist eine Banalität und gleichzeitig führt uns die Wirklichkeit des Sterbens an die Grenzen dessen, was wir zu ertragen vermögen. Es ist diese widersprüchliche Erfahrung mit der Vergänglichkeit des Lebens, die viele Menschen den Tod verdrängen lässt: Mit dem, was sowieso kommt, meinen wir uns nicht auseinandersetzen zu müssen.
Und das, was unsere Existenz bedroht, drücken wir – so lange es irgend geht – weg. Doch wenn dann der Tod in den Alltag einbricht, plötzlich und ungefragt und vor der Zeit, mit der wir rechnen, dann verkehrt sich das Natürliche in tiefe Verzweiflung und das Banale wird zum Extremen. Denn mit dem Sterben eines Menschen geht für die, die überleben, eine ganze Welt unter.
Das habe ich nicht nur erlebt in meiner beruflichen Praxis. Seit 50 Jahren gehe ich zeitweise wöchentlich hinter einem Sarg oder einer Urne her und begleite Menschen in ihrer Trauer. Meine zweite Beerdigung 1975 – ich selbst war 25 Jahre alt und Vikar – betraf einen 23-jährigen jungen Mann, der bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Er war aus der katholischen Kirche ausgetreten, aber die Mutter bat mich inständig, ihn kirchlich zu bestatten.
Ohne irgendjemanden zu fragen bzw. die noch heute herrschende kirchliche Bürokratie zu bedienen, bin ich der Bitte nachgekommen. Denn Bürokratie und Seelsorge schließen sich aus (diese Botschaft ist aber noch immer nicht in den Amtsstuben unserer inzwischen aus der Zeit gefallenen Kirchenverwaltung angekommen).
Auch persönlich musste ich die Erfahrung machen, dass mit dem Sterben eines lieben Menschen eine Welt untergeht: Meine beiden Ehefrauen starben nach langer, schwerer Krankheit (Krebs, ALS) 2002 und 2020. Eigentlich hat mich erst das eigene Erleben gelehrt, was es bedeutet, einen nahen Menschen zu verlieren.
Biblischer Realismus
Geholfen hat mir, dass wir von unseren Eltern schon als Kinder vertraut gemacht wurden mit dem roten Faden, der sich durch die ganze Bibel zieht: Alles Leben ist endlich. Diese Erkenntnis bestimmt auch das Menschenbild und die Anschauung der Welt, die wir dem biblischen Glauben verdanken. Ein zentraler Text sind Verse aus dem 39. Psalm:
5 Herr, lehre doch mich,
dass es ein Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.
6 Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir,
und mein Leben ist wie nichts vor dir.
Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!
7 Sie gehen daher wie ein Schatten
und machen sich viel vergebliche Unruhe;
sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.
8 Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten?
Ich hoffe auf dich.
9 Errette mich von aller meiner Sünde
und lass mich nicht den Narren zum Spott werden.
Endlichkeit, Tod und Sühne
Das Leben ist nicht nur endlich. Es ist im Vergleich zu Gottes Größe ein Nichts, aber es hat dennoch ein Ziel. Das gilt für jedes Menschenleben, ob es nur sieben oder 101 Jahre währt! Darum kann das Ziel nicht sein, in diesem irdischen Leben möglichst alles erreichen zu können: Wohlstand, Anerkennung, ein möglichst langes Leben.
Denn von dem, was der Mensch bewerkstelligen kann, bleibt am Ende nichts übrig. Das soll nicht die eigene Lebensleistung schmälern, wohl aber relativieren: Ein Elon Musk wird genauso mit leeren Händen vor Gott stehen wie der Leipziger Flötenspieler Dany. Deswegen richtet der Beter all seine Hoffnung allein auf Gott, den Schöpfer alles Seins, und das Ziel des Lebens.
Nicht von ungefähr wird im 39. Psalm die Hoffnung mit der Bitte verbunden, dass dem Menschen die Sünde, also das, worin er gefehlt, versagt hat, nicht angerechnet wird. Damit wird ein Zusammenhang aufgetan, der zum biblischen Verständnis von Tod und Sterben dazu gehört. Paulus hat ihn so ausgedrückt: Denn der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn (Römer 6,23).
Dass das Leben eines jeden Menschen vom Tod bedroht ist und darin seine Grenze findet, liegt nicht nur an der Vergänglichkeit des Lebens. Es hat auch damit zu tun, dass wir Menschen unserem Auftrag nicht gerecht werden, gegen unsere Bestimmung anleben – individuell und kollektiv: Raubbau mit dem eigenen Körper, Krieg, Zerstörung der Natur. Das alles führt zum Sterben und bedarf der Vergebung, der Erlösung.
Allerdings darf dies nicht dazu führen, die eigene Krankheit und den Tod nur noch als Schuld, als Strafe zu erleben. Dennoch fragen schwer kranke Menschen: Was habe ich falsch gemacht? Warum straft mich der liebe Gott mit dieser Krankheit? Womit habe ich das verdient? Solche Fragen lassen sich nicht ausradieren. Wir können sie nur mit Vertrauen beantworten, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will (Dietrich Bonhoeffer).
Worauf es ankommt
Entscheidend ist nicht die zeitliche Länge des Lebens. Entscheidend ist, dass wir die Zeit, die Gott uns schenkt, sinnvoll und verantwortlich gestalten – immer in der Hoffnung, dass uns die Fülle des Lebens nach dem Tod bevorsteht. Der Mensch hat keinen Anspruch auf Leben, wohl aber allen Grund zur Dankbarkeit für das Leben.
Das Besondere ist nicht, dass wir sterben müssen. Das Besondere, das Außergewöhnliche ist, dass wir morgen noch leben. So ist auch der berühmte Vers aus dem 90. Psalm zu verstehen: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Psalm 90,12).
Vom Sterben zum Leben
Die sehr nüchterne Sicht der Bibel auf den Tod, auf das Ende des Lebens soll uns zu einem Leben ermutigen, das sich nicht darin erschöpft, möglichst lange, gesund, erfolgreich und sorgenfrei zu leben. Vielmehr kommt es darauf an, das Leben dankbar zu empfangen und verantwortlich zu gestalten – bis wir sterben. Der Tod ist aber nicht das Ende, das endgültige Aus.
Denn mit dem Sterben kehren wir dahin zurück, woher wir kommen – fromm ausgedrückt: Wir kommen von Gott und kehren zu ihm zurück. In diesem Sinn fällt niemand aus Gottes Hand. Säkular wird dies bei jeder Beerdigung sehr elementar zum Ausdruck gebracht: „Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden.“
Zusammenfassend möchte ich die drei Grundfragen, die sich jeder Mensch stellt, so beantworten:
Woher komme ich? – Von Gott.
Wozu lebe ich? – Für Gott.
Wohin gehe ich? – Zu Gott.
In dieser Sicht kann ich beides gewinnen: Lebensgewissheit, Trost und Lebensfreude – und zwar sowohl als Mensch, der den Tod vor Augen hat, wie als Mensch, der um vergangenes Leben trauert.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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