Kriege, unvorstellbare Grausamkeiten, Zerstörungen, Vergewaltigungen, Folter und Terrorismus: Müssten wir nicht jeden Tag auf die Straße gehen, um für den Frieden zu demonstrieren, um gegen das Diktat des Militärischen aufzustehen und all den Kriegstreibern auf dieser Welt die Rote Karte zu zeigen? Ja, ein millionenfacher Aufschrei ist mehr als angebracht! Aber reicht das aus, um vor allem den Opfern von Terror, Unterdrückung, Entmenschlichungspolitik gerecht zu werden?

Frieden und Waffenstillstand denen abzuverlangen, die überfallen, als Geiseln entführt, zum Kriegsdienst gezwungen werden, ist etwas anderes, als bei denen das Ende einer Gewaltpolitik einzuklagen, die zunächst einmal Tod und Verderben über ein Land oder eine Menschengruppe gebracht haben.

Als ich vor 57 Jahren in Düsseldorf als Schüler zum ersten Mal an einer Antikriegsdemonstration teilgenommen habe, war die Ausgangslage für mich relativ klar: Die USA führen in Vietnam einen ungerechten Krieg und rechtfertigen das Bomben und Töten damit, dass dort die Demokratie und Freiheit verteidigt würden. Gegen diese Heuchelei gingen wir auf die Straße. Auch später war die Zielrichtung von Antikriegsdemonstrationen ziemlich eindeutig: das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Völker und Kulturen gegen die imperialistische Interventionspolitik von Großmächten wie USA und UdSSR zu setzen.

So habe ich auch mein Engagement in der Friedensbewegung der 80er Jahre und bei den Demonstrationen gegen die beiden Golfkriege 1991 und 2003 verstanden – immer ausgehend von einem biblisch motivierten Pazifismus. Schon damals war klar: Diese Kriege werden den Terror im Nahen Osten fördern und nichts dazu beitragen, die Region zu befrieden. Das hat sich bis heute bewahrheitet – nicht zuletzt durch Terrororganisationen wie Hamas, Hisbollah und den IS.

Gerade die Golfkriege und die Abwesenheit jeglicher Friedensinitiative für die ganze Region haben dazu beigetragen, dass der Terror sich ausbreiten, diktatorisch-religiös-fundamentalistische Systeme sich etablieren und kriegerische Auseinandersetzungen geführt werden konnten – ohne jegliche Perspektive. Das ist – Gott sei es geklagt – bis heute so geblieben.

Es ist leider auch nicht erkennbar, dass Israel eine Vorreiterrolle für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten spielt. Dabei war es der Ministerpräsident Israels, Jitzchak Rabin, der Anfang der 90er Jahre dazu die Initiative ergriffen hatte. Aber er wurde am 04. November 1995 ermordet; und die jetzige Regierung Israels unter Benjamin Netanyahu betreibt eine verhängnisvolle, selbstzerstörerische Politik.

In Europa führt uns der nun seit zweieinhalb Jahren andauernde Ukraine-Krieg drastisch vor Augen: Mit der militärischen Aggression des Putin-Russland gegen die Ukraine ist wieder einmal ein Land von einer Großmacht überfallen worden, mit dem Ziel der Unterwerfung. Darüber hinaus will das Putin-Russland durch diesen Krieg die Europäische Union, an sich ein sehr erfolgreiches Friedensmodell, destabilisieren.

All das ist verheerend – zumal die kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden sind mit einer weltweit rasanten Ausweitung der Rüstungsproduktion. Diese wiederum liefert das Futter für die nächste kriegerische Auseinandersetzung.

Sollten diese katastrophalen Entwicklungen nicht Anlass genug sein, dass Millionen Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa aufstehen und ein STOP aller kriegerischen Handlungen fordern? War es darum nicht mehr als angebracht, dass am 3. Oktober 2024 Zehntausende Menschen in Berlin für ein „Frieden schaffen ohne Waffen“ demonstrierten? Warum bin ich nicht nach Berlin gefahren oder habe hier in Leipzig zu einer Kundgebung/Demonstration aufgerufen?

Der Grund ist kein einfacher: Ich möchte mich nicht zum Büttel von Aggressoren und Autokraten machen lassen. Ich möchte auch in meinem Protest gegen Hochrüstung und militärische Interventionspolitik glaubwürdig bleiben. Das kann ich aber nur, wenn ich zwischen Täter und Opfer, zwischen den militärisch Starken und Schwachen, sehr klar unterscheide und die Verantwortlichkeiten benenne. Denn nur so kann ich auch den Adressaten meines Protestes bestimmen.

Der ist in Sachen Ukraine-Krieg das Putin-Russland, der ist im Nahen Osten der religiös-fundamentalistische Terrorismus, der ist weltweit der Autokratismus mit imperialem Anspruch – dies alles unabhängig davon, dass es natürlich für keine politische Entwicklung nur monokausale Erklärungen gibt. Aber diese dürfen die Unterscheidung von Täter und Opfer nicht verwischen.

Darum kann eine Demonstration für Frieden in der Ukraine eigentlich nur vor der Botschaft der Russischen Föderation in Berlin oder den russischen Konsulaten in Deutschland stattfinden – so wie in 70er Jahren Ziel der Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen die Vertretungen der USA waren.

Wenn die Friedensbewegung glaubwürdig bleiben und Stärke gewinnen will, müssen wir zuerst und vor allem den Adressaten des Protestes benennen und jede Form von Rechtfertigung der Täter vermeiden. Das ist am 3. Oktober 2024 in Berlin nicht geschehen. Im Gegenteil: Als der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner das Putin-Russland als Aggressor benannte, wurde er ausgebuht.

Auf einer Friedensbewegung, die sich in dieser Weise einer aggressiven Großmacht andient und offensichtlich kein Problem hat, ihren Bogen von AfD bis BSW zu spannen, kann kein Segen liegen. Es ist derzeit eine offene Frage, wer in der Lage ist, einen Ausweg aus dieser fatalen Schieflage zu finden. Denn das kriegerische Morden und Zerstören muss ein Ende haben!

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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