Am 29. Mรคrz 1974, also vor รผber 50 Jahren, wurde der 38-jรคhrige Pole Czeslaw Kukuczka am Grenzรผbergang Bahnhof FriedrichstraรŸe in Ost-Berlin erschossen โ€“ einer von mindestens 140 Menschen, die an der Berliner Mauer ihr Leben lieรŸen. Am vergangenen Montag wurde der mutmaรŸliche Tรคter, ein ehemaliger hochrangiger Stasi-Offizier, vom Landgericht Berlin wegen Mordes zu 10 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskrรคftig.

Das Gericht stellt in seinem Urteil fest, dass es sich bei dem Mord nicht um โ€ždie Tat eines Einzelnen aus persรถnlichen Grรผndenโ€œ handelt, sondern die Tat โ€žvon der Stasi geplant und gnadenlos ausgefรผhrtโ€œ wurde. Das Gericht hat nach Wรผrdigung aller Unterlagen keinen Zweifel daran gelassen, dass der jetzt 80-jรคhrige ehemalige Stasi-Offizier und Bรผrger der Stadt Leipzig die Tat, nรคmlich die ErschieรŸung des Polen aus unmittelbarer Nรคhe, begangen hat.

Dafรผr wurde er damals mit einem Orden der DDR ausgezeichnet. Das Gericht wertet die Tat nun als Mord und nicht als Totschlag. Im letzteren Fall wรคre die Tat verjรคhrt.

Jetzt kann man sich vorstellen, dass nicht wenige Bรผrgerinnen und Bรผrger insbesondere in Ostdeutschland dieses Urteil als weiteren Ausweis einer Benachteiligung und Herabwรผrdigung ostdeutscher Biografien ansehen. Wieso soll ein Mensch, der doch nur Befehle ausgefรผhrt und inzwischen das Alter von 80 Jahren erreicht hat, den Rest seines Lebens im Gefรคngnis verbringen? Wem nรผtzt das? S

elbst die Angehรถrigen des Opfers, die als Nebenklรคger aufgetreten sind, haben wohl ein Interesse an einem Schuldspruch, aber nicht daran, dass der verurteilte Tรคter seine Strafe absitzen muss.

Das Urteil des Landgerichts Berlins erinnert stark an das Urteil des Bundesgerichtshofes vom August dieses Jahres. Da bestรคtigte dieses die Verurteilung der frรผheren, inzwischen 99 Jahre alten KZ-Sekretรคrin Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fรคllen und zum versuchten Mord in fรผnf Fรคllen zu zwei Jahren Jugendstrafe. Auch hier kann man zwei Fragen stellen:

  • Wieso wird eine einfache Angestellte fรผr Mord verantwortlich gemacht, wo sie doch lediglich auf Anweisung ihrer Vorgesetzten gehandelt hat und die angebliche Tat 80 Jahre zurรผckliegt?
  • Was ergibt es fรผr einen Sinn, wenn Menschen, die doch nur das gemacht haben, was von ihnen verlangt wurde, und nun in ihre letzte Lebensphase eingetreten sind?

Um diese Fragen zu beantworten, ist entscheidend, dass ein Grundgedanke des Rechtsstaates Beachtung findet: Fรผr eine Straftat ist zuerst und vor allem der oder die verantwortlich, der oder die eine Tat ausgefรผhrt hat. Damit folgt der Rechtsstaat einem Menschenbild, das stark beeinflusst ist von biblischen Grundgedanken. Danach ist jeder Mensch fรผr das verantwortlich, was er tut โ€“ unabhรคngig davon, dass jeder im Zusammenhang mit anderen lebt und davon beeinflusst wird.

Letzteres aber darf nicht dazu fรผhren, die Verantwortung fรผr das eigene Handeln auf andere abzuschieben. Die Verantwortung fรผr das eigene Tun und Lassen ist Teil der Wรผrde des Menschen! Das wird schon in der sog. Sรผndenfallgeschichte aufgezeigt (Die Bibel: 1. Mose 3). Als Adam von Gott dafรผr zur Rechenschaft gezogen wird, dass er entgegen dem Verbot die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, schiebt er die Schuld auf Eva und diese auf die Schlange. Aber das รคndert nichts daran, dass Adam und Eva die Strafe fรผr ihr Fehlverhalten zu ertragen haben.

Es ist folgerichtig, dass bei Mord der zeitliche Abstand zur Tat (Verjรคhrung) keine Rolle spielen darf und auch nicht die Frage, ob man auf Befehl gehandelt hat, zu einer Tat verfรผhrt wurde oder sich in den Dienst eines Unrechtssystems gestellt hat. Jeder und jede hat die Mรถglichkeit, auch anders zu handeln. Es ist ein Verdienst beider Gerichte, dass sie durch ihre Urteile die deutliche Unterscheidung zwischen Tรคter und Opfer nicht verwischt haben.

Denn die Tรคter waren nicht Opfer des Naziterrorsystems oder des Unrechtsstaates DDR. Sie waren auch mehr als Mitlรคufer. Sie haben an entscheidender Stelle dazu beigetragen, dass Menschen zu Opfern des Systems wurden und durch ihre Ermordung schweres Leid รผber die Familien der Opfer gekommen ist. Dieses auch nach Jahrzehnten durch ein Urteil festzustellen, ist nicht nur fรผr die Angehรถrigen der Opfer eine Genugtuung. Es stรคrkt auch den Rechtsstaatsgedanken.

Bleibt die zweite Frage: Ist es sinnvoll, dass nach so langer Zeit die Tรคter strafrechtlich belangt werden? Mรผsste hier nicht Gnade vor Recht ergehen? Ja, der Rechtsstaat hat auch hier wichtige Gedanken der biblischen Botschaft aufgenommen. Denn diese geht grundsรคtzlich von einem gnรคdigen Gott aus, der trotz aller Verfehlungen des Menschen diesem einen unverdienten Neubeginn ermรถglicht.

So auch Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies, so auch dem Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat (Die Bibel: 1. Mose 4), so auch dem David, der in einen รผblen Sex- und Crime Skandal verstrickt war (Die Bibel: 1. Samuel 11), so auch dem Mรถrder, der neben Jesus Christus gekreuzigt wurde (Die Bibel: Lukas 23).

Alle genannten Personen mussten Verantwortung fรผr das รผbernehmen, was sie angerichtet haben. Aber gleichzeitig widerfuhr ihnen das, was wir Gnade nennen, sodass sie einen Neuanfang wagen konnten. Gnade bedeutet also nicht โ€žSchwamm drรผberโ€œ, sondern Schulderkenntnis und Ermรถglichung eines Neuanfangs jenseits aller Gnadenlosigkeit. Genau dem entspricht das Resozialisierungsgebot im Strafvollzug, ist aber auch Aufgabe der Gesellschaft.

Der in Berlin verurteilte Stasi-Offizier hat im Prozess jede Aussage verweigert. Von Schuldanerkenntnis kann keine Rede sein. Darum ist es auch nicht mรถglich, einfach Gnade gegenรผber dem Tรคter walten zu lassen. Denn diese kรคme einer Verharmlosung der Tat gleich. Von daher gesehen ist es vรถllig unangemessen, das Berliner Urteil in die in eine vรถllige Schieflage geratene Ost-West-Diskussion einzuordnen.

Hier geht es vielmehr um den Rechtsstaat, um den Gedanken der Resozialisierung und der Gnade und Barmherzigkeit auf der einen und Verantwortung fรผr schuldhaftes Verhalten auf der anderen Seite. Es ist ein Segen, dass beide Gerichte durch ihre Urteile uns allen dieses ins Bewusstsein gerufen hat.

Zum Ganzen verweise ich auch auf meine letzte Predigt รผber 2. Mose 34,4-10. Da geht es auch um den Zusammenhang von Gnade und Strafe.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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