Die Stiftung „Orte der Deutschen Demokratiegeschichte“ in Frankfurt/Main wurde im November 2023 gegründet und ist eine bundesunmittelbare Stiftung, das heißt vom Bund finanziert. Dr. Kai-Michael Sprenger ist Gründungsdirektor der Stiftung und hat eine beeindruckende Vita: Studium der Geschichte, Latein, Germanistik und Pädagogik in Mainz, Glasgow und Pavia. Wissenschaftliches Volontariat am Gutenberg-Museum Mainz. Promotion in mittelalterlicher Landesgeschichte.

2001 bis 2010 Kulturreferent und Kreisarchivar des Landkreises Ravensburg, Geschäftsführer der landeshistorischen Stiftung Friedrich Schiedel Wissenschaftspreis zur Geschichte Oberschwabens sowie seit 2006 zusätzlich Kulturreferent und Kunstberater der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke (OEW). 2010 bis 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Rom. 2014 bis 2015 Geschäftsführer des Instituts für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz e.V. an der Universität Mainz.

2016 bis 2023 Referent für Archive, Bibliotheken, Nichtstaatliche Museen, Landesgeschichte und Heimatpflege am Rheinland-Pfälzischen Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration. Ausgebildeter systemischer Coach und Organisationsentwickler. Seit Oktober 2023 Direktor der Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“

Wir haben mit Dr. Sprenger zu den Intentionen und Zielen der Stiftung gesprochen. Das Gespräch fand am 21. August bei einer ZOOM-Konferenz statt.

Herr Dr. Sprenger, wir feiern in diesem Jahr 2024 mehrere Jahrestage der Demokratie: 175 Jahre Paulskirchenverfassung, 75 Jahre Grundgesetz und 35 Friedliche Revolution und Mauerfall. Andererseits ist, nicht nur in Deutschland, die Demokratie wieder gefährdet. Viele Menschen wollen, unterstützt von populistischen Parteien und Bewegungen, Schluss machen mit der jeder Art von Erinnerungskultur – so ist zumindest der Eindruck. Kann man mit einer neuen Stiftung dem überhaupt entgegensteuern?

Das hoffen wir natürlich. Der Auftrag der Stiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“, der Titel ist vergleichsweise lang, besteht darin, die Auseinandersetzung in der Gesellschaft mit diesen Themen der deutschen Demokratiegeschichte, der Parlamentsgeschichte, der Freiheitsgeschichte zu befördern und das für möglichst viele Menschen interessant zu machen.

Der Blick auf die Orte ist natürlich interessant, weil sich an den Orten diese Prozesse, diese Bewegungen und die Personen, die sich in der Demokratiegeschichte für Demokratie oder politische Partizipation eingesetzt haben, oft manifestieren. Ich glaube, es ist wichtig, die Frage zu stellen: Welchen Beitrag kann die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte zur aktuellen Demokratiebildung und -vermittlung leisten.

Da möchte ich ein, zwei Beispiele geben, warum das relevant ist. Unsere Demokratie, die entstand ja nicht aus dem Nichts, sondern es gibt viele Vorgeschichten, die dazu geführt haben, was wir heute haben. Das betrifft sowohl die Paulskirche, das Grundgesetz und natürlich auch 35 Jahre Friedliche Revolution. Da gibt es durchaus Elemente, die man miteinander in Verbindung setzen kann.

Und wenn wir heute bei jungen oder auch älteren Menschen, darum geht es ja, manchmal eine gewisse Politik- und Demokratieverdrossenheit feststellen, kann der Blick in die Geschichte schon einen Beitrag dazu leisten zu erklären, woher das, was wir heute haben, was ja positiv ist, kommt. Diese positiven Errungenschaften, die wären vielleicht auch bewusster, wenn man mal die Gegenfolie deutlich macht: Was bedeutet es, wenn man keine Demokratie hat, wenn man keine Grundrechte hat, wenn man keine Versammlungsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit hat.

Ich glaube, nur in dieser Relation wird deutlich, auf was für einer soliden, tollen Verfassung und was für wichtigen und guten Grundlagen unsere Demokratie beruht. Es ist eine schwierige Aufgabe, das zu vermitteln, das ist in der Tat wahr. Da bedarf es ganz unterschiedlicher Formate, für unterschiedliche Zielgruppen. Wir haben auf der einen Seite die akademische Geschichtswissenschaft, die Prozesse, Personen und Ereignisse erforscht und die Ergebnisse einbringt. In der Vermittlung für unterschiedliche Zielgruppen muss man vieles natürlich runterbrechen.

Bedarf es denn eigentlich einer neuen Erzählung der Geschichte, besonders der Demokratie, um den Populisten wieder entgegenzuwirken? Geschichtserzählung gehört ja zur Erinnerungskultur und viele Menschen sagen jetzt: Geschichte interessiert mich nicht mehr, mich interessiert nur das Hier und Jetzt.

Ja, das verstehe ich, dass das manchmal so plakativ geäußert wird. Unsere Aufgabe besteht ja darin zu zeigen, dass das Hier und Jetzt ohne die Geschichte gar nicht denkbar ist.

Wenn Sie fragen: Bedarf es einer neuen Erzählung? Ich glaube als Geschichtswissenschaftler, die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist immer wieder neu. Jede Generation, jede Gesellschaft muss bestimmte Positionen der Geschichte wieder neu aushandeln, definieren und sich dazu neu in Beziehung setzen. Ich glaube, das ist ein grundsätzlicher und dauerhafter Prozess. Die Geschichte ist ja nie abgeschlossen.

Deswegen gibt es, meiner Meinung nach, nicht diese eine Meistererzählung zur deutschen Demokratiegeschichte, sondern man muss das immer wieder aktuell in Bezug setzen. Und das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nie aufhört.

Wir haben dieses Jahr drei wichtige demokratiehistorische Jubiläen, Sie sagten es schon. 75 Jahre Grundgesetz, das heißt auch 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland, wir feiern 35 Jahre Friedliche Revolution, wir feiern 175 Jahre Paulskirchenverfassung. Das hängt in gewisser Hinsicht alles miteinander zusammen, weil es auch Rückbeziehungen gibt. Ich glaube, diese Ereignisse muss man schon im Verbund sehen.

Vor allem ganz, ganz wichtig und das wird oft vergessen, ist der europäische Kontext. Keines dieser drei demokratiehistorischen Ereignisse ist ohne den europäischen Kontext überhaupt denkbar. Wir erleben gerade im Moment, dass diejenigen, die versuchen, die Demokratiegeschichte für ihre teilweise nationalistisch engstirnigen Perspektiven zu vereinnahmen, dass bei denen ja gerade dieser europäische Kontext oft ausgeblendet wird. Es ist ein wichtiger Punkt, diesen europäischen Kontext auch deutlich herauszustellen.

Dr. Kai-Michael Sprenger. Foto: privat
Dr. Kai-Michael Sprenger. Foto: privat

Viele Menschen meinen, nur Volksabstimmungen wären die „wahre“ Demokratie, wollen sich aber nicht mit Details beschäftigen. Welche Bildung brauchen wir, um Beeinflussung der Ergebnisse demokratischer Beteiligung, in dieser Form, nicht Populisten und der BILD zu ermöglichen?

Da machen Sie ja ein großes Fass auf mit so einer Frage! Das ist die Frage, inwieweit das auch über den engeren Aufgabenbereich einer Stiftung hinausgeht. Ich glaube, man darf den Auftrag einer solchen Stiftung jetzt auch nicht überstrapazieren. Wir sind ein Player neben anderen, die sich mit Demokratiebildung und Vermittlung beschäftigen.

Wir haben natürlich diesen Blick auf die Orte der Demokratiegeschichte, also auf die historischen Ereignisse, Prozesse und Bewegungen. Und da muss natürlich auch alles zusammenspielen. Historisches Bewusstsein, darum geht es letztlich, ist grundsätzlich immer eine wichtige Grundlage für die Gestaltung einer Gesellschaft.

Ich glaube, wenn wir in Artikel 1 unserer Verfassung schauen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, solche Sätze sind nur auf der Folie einer Auseinandersetzung mit der Geschichte überhaupt denkbar und verständlich. Der Grundrechtekatalog des Grundgesetzes geht zum Teil wörtlich bis in die Formulierung hinein, zurück auf den Grundrechtekatalog der Paulskirche und Teile der Weimarer Verfassung. Das ist vielen nicht mehr bewusst. Und das sind Punkte, bei denen ich glaube, dass es wichtig ist, diese Anbindung auch noch mal deutlich zu machen.

Demokratiebildung ist ein ganz großes Thema. Wie kann man, Ihrer Meinung nach, an die Schulen, natürlich auch an die Familien, die Geschichte der Demokratie so vermitteln, dass das Verständnis über die Geschichte und für die Beteiligung an der Demokratie geweckt wird?

Es ist ja nicht so, dass diese Themen in den Lehrplänen völlig außen vor wären. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass zum Beispiel Orte der Demokratiegeschichte von gleichsam nationaler Bedeutung, etwa die Paulskirche oder Hambacher Schloss, ich könnte jetzt auch weitere Orte nennen, die wichtig sind, vielleicht auch in den Schulen, bei der Auseinandersetzung mit diesen Themen, noch stärker thematisiert werden und mit Blick auf ihre heutige, aktuelle Relevanz fokussiert würden.

Diese Orte kann ich eben auch physisch besuchen. Ein solcher Besuch mit dem authentischen Ort, er kann, wenn er entsprechend begleitet und vorbereitet wird, dazu führen kann, dass von den grundsätzlichen Themen, die mit diesen Orten verbunden sind, bei den Besucherinnen und Besuchern etwas hängen bleibt.
Ich glaube, dieses Zusammenspiel zwischen Auseinandersetzung mit diesen Themen in der Schule und dem begleiteten Besuch dieser Orte, ist ein wichtiger methodischer Ansatz, um hier eine gewisse Nachhaltigkeit herzustellen.

Wenn man es jetzt beobachtet, haben wir ja gerade im Osten Deutschlands sehr große Probleme mit dem Demokratieverständnis, wenn man den Statistiken glaubt. Gibt es da, von Ihrer Warte aus, wirklich diese Problematik ostspezifisch oder stellt sich das anders dar? In der einleitenden Frage sagte ich: Es ist ja nicht nur Deutschland, wo das passiert.

Die Ost-West-Thematik, das wird mir manchmal ein bisschen zu sehr polarisierend dargestellt. Gerade in diesem Jahr, 35 Jahre Friedliche Revolution, denke ich, sollten wir immer wieder daran erinnern, dass gerade die Menschen in der ehemaligen DDR uns 1989 gezeigt haben, was für einen großartigen, fantastischen Beitrag sie zur Demokratie geleistet haben.

Eine Friedliche Revolution und das wenige Monate nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens. Wer hätte damit überhaupt rechnen können?

Auch hier ist der europäische Kontext wichtig. Ich glaube, ohne die Bewegungen in Polen, Solidarność, ohne den Fall des Eisernen Vorhangs in Ungarn wenige Monate vorher, wäre das vielleicht so in dieser Form nicht möglich gewesen. Das ist vielleicht eine steile These, aber der europäische Kontext ist wichtig.

Die Ost-West-Thematik ist sicherlich ein Thema, aber ich glaube, in diesem Jahr sollten wir uns dankbar an diesen großartigen Beitrag erinnern, der 1989 zur Demokratie geleistet wurde. Wenn ich jetzt mal diese Perspektive eines Mainzers etwas zugespitzt in Richtung Osten formulieren darf. Seid stolz darauf! Und in dieser Erinnerung und in diesem Respekt und in dieser Wertschätzung der Ereignisse ist es vielleicht auch möglich, heute jenen zu begegnen, die heute behaupten, Demokratie sei egal, oder wir haben ja gar keine wirkliche Demokratie.

Wer so etwas polarisierend formuliert und damit auch die Verhältnisse vor der Friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR vergisst, für den erscheint Demokratie vielleicht eher ein Missverständnis zu sein. Manche, und das erlebe ich in vielen Gesprächen, verwechseln Demokratie mit der Forderung danach, dass die partikularen Individualinteressen jetzt gleich, immer sofort, vollumfänglich, nachhaltig, zu 180 Prozent bedient und befriedigt werden müssen.

Das kann man sagen, glauben und meinen, aber das ist ein Demokratieverständnis, das viel zu kurz gesprungen ist. Zur Demokratie gehört, nach meinem Verständnis, das Bewusstsein, dass Demokratie auch mit gewissen Pflichten verbunden ist. Zumindest mit der Pflicht, sich zu gewissen Themen als demokratisch denkender Mensch auseinanderzusetzen. Eine Meinung und eine Haltung zu haben zu Themen, die grundsätzlich unser Zusammenleben in einer Demokratie bestimmen, vor allem aber ein klares Bekenntnis zu unserer Verfassung, dem Grundgesetz.

Ich glaube das Thema Haltung ist ein wichtiger Punkt. Wenn wir jetzt nochmal in die Geschichte blicken, da gibt es durchaus Beispiele für Menschen, die in bestimmten krisenhaften Situationen der Demokratie Haltung gezeigt haben. Das können durchaus Orientierungspunkte- und -angebote sein, die eben oft auch mit Orten, Prozessen, Bewegungen und Personen verbunden sind.

Die Stiftung heißt „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“. Selbstverständlich sind Orte wichtig, aber was kann die Stiftung jetzt allgemein, über diesen plakativen Hinweis auf diese Orte, zur Förderung des Demokratieverständnisses leisten?

Die Stiftung basiert im Grunde auf mehreren Säulen. Eine wichtige Säule der Stiftung ist die Förderung von Projekten. Das geht von kleinen Projekten von ehrenamtlich getragenen Vereinen und Museen bis hin zu größeren überjährigen Projekten, zu Themen, die sich mit Demokratiegeschichte oder diesen Orten, den Prozessen, den Menschen und den Ereignissen, die dahinter stehen, beschäftigen.

Ich glaube, diese Förderung trägt dazu bei, dass vor Ort diese Themen behandelt und kommuniziert werden. Das können Ausstellungen sein, das können Symposien sein, das können Vortragsreihen sein und das können auch digitale Formate sein. Die Stiftung hat jetzt in ihrem ersten Jahr der Förderung ein relativ breites Spektrum dieser unterschiedlichen Formate abgedeckt.

Das geht vom digitalen Spiel bis hin zur Ausstellung, bis hin zur Tagung und zum Symposium, das ist relativ breit. Wir haben bei den Antragstellern alles, von großen Kommunen bis hin zu kleinen Vereinen, die mit kleinen Projekten vor Ort einen Beitrag leisten, um einen Aspekt ihrer lokalen, regionalen Demokratiegeschichte zu präsentieren.

Jetzt gehen Sie an die Öffentlichkeit. Sie machen Aktionen, Ausstellungen und mehr. Leipzig ist ja der Ort der Friedlichen Revolution. Wann und womit kommen Sie nach Leipzig?

Nach Leipzig kommen wir mehrfach in diesem Jahr. Zum einen werden wir das Festival „Störenfriede“ der Jazzwerkstatt Peitz in Leipzig als Kooperationspartner fördern, das am 21./22. September in Leipzig statt. Das hängt auch zusammen mit der Übergabe des Archivs dieses Vereins an die Deutschen Nationalbibliothek, mit der wir sehr eng zusammenarbeiten. Die Stiftung hat übrigens ihren Sitz in Frankfurt am Main und wir sind in den Räumen bei der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt zu Gast.

Von daher gibt es da eine enge Verbindung auch zur Deutschen Nationalbibliothek. Dann wird es eine Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Ort der Demokratiegeschichte geben, mit der die Stiftung ebenfalls sehr eng zusammenarbeitet. Diese Jahrestagung findet Ende September, am 26. und 27. September, in Leipzig statt. Und wir fördern etwa die „Revolutionale“ in Leipzig, auch ein wichtiges Projekt. Also Leipzig steht in diesem Jahr schon mehrfach auf der Agenda bei uns.

Eine letzte Frage noch, ein bisschen persönlicher: Wie optimistisch sehen Sie zurzeit die Stabilität der Demokratie in Deutschland?

Die Stabilität der Demokratie in Deutschland? Ja, man muss in diesen Zeiten zweifellos aufmerksam und wachsam bleiben. Das ist wichtig. Ich glaube aber, dass die Demokratie bei uns relativ stark ist. Die Demokratinnen und Demokraten sind, aus meiner Sicht, immer noch eine starke und deutliche Mehrheit. Damit will ich die Gefahren von rechts und auch von links nicht bagatellisieren. Damit muss man sich auseinandersetzen.

Aber gerade der Blick auf die Geschichte der letzten 75 Jahre zeigt schon, dass wir, glaube ich, eine relativ starke Demokratie entwickelt haben. Von daher bin ich grundsätzlich eher optimistisch als pessimistisch, wenn es den Vielen gelingt, ja, noch deutlicher gelingt, ihre Haltung und Stimme deutlich zu machen und zu vertreten. Da kann, da muss jeder an seiner Stelle seinen Beitrag leisten: Hinschauen und sich unmissverständlich zur Demokratie bekennen.

Das tut gut zu hören.

Vielleicht noch ein Punkt: Demokratie ist ja nie ein Zustand, es ist immer ein Prozess. Ich glaube, das muss man nochmal deutlich machen, weil damit auch der Blick in die Geschichte nochmals besonders legitimiert wird. Wie haben sich Prozesse früher mit demokratischen Themen auseinandergesetzt? Wie hat sich das entwickelt? Und wer sagt denn, wenn es die Demokratie, und da bin ich sehr hoffnungsfroh, wenn es die Demokratie in 100 oder 150 Jahren noch gibt, dass man uns dann aus der Perspektive der Nachgeborenen nicht auch gewisse demokratische Defizite vorwerfen wird?

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat es in seiner Rede zum Paulskirchenjubiläum auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: Natürlich hat die Paulskirchenverfassung aus heutigem Demokratieverständnis auch gewisse demokratische Defizite gehabt. Beim Thema Frauenwahlrecht und einigen anderen mehr. Aber das zeigt ja auch: Demokratie entwickelt sich.

Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns eben stellen müssen, dass wir dieses Demokratieverständnis und unsere Vorstellung, unsere Form der Demokratie, dass die immer in einem Wandel und einem Prozess gefangen ist oder sich entfaltet. Aber, und das ist jetzt mit Blick auf das Jubiläum des Grundgesetzes wichtig, dass es so etwas wie einen Sockelbetrag gibt, der nicht verhandelbar ist.

Der Grundrechtekatalog etwa, vor allem aber die Staatsform gehören als Basis unumstößlich dazu. Und in diesem Mix, in dieser Gemengelage zwischen Demokratie als Prozess, der sich entfaltet, der auch auf aktuelle Fragestellungen unserer Zeit Antworten geben muss und einer Basis von Grundüberzeugung, die nicht verhandelbar sind und die Grundlage unserer demokratischen Kultur bilden müssen, in diesem Wechselspiel ist die Demokratie und ihre Weiterentwicklung eben ein sehr spannender Prozess.

Ja, definitiv. Ich sage immer, für meinen Teil: Demokratie funktioniert am besten, wenn jeder mitarbeitet.

Ja, da sagen Sie etwas, was ich augenzwinkernd nochmal replizieren möchte. Demokratie geht nicht alleine, das macht man besser nicht alleine, das geht und macht man besser nur gemeinsam. Und die Auseinandersetzung, die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte, das würde ich genauso formulieren, das macht man besser auch nicht alleine im stillen Kämmerlein.

Sondern da geht es auch um eine gemeinsame Auseinandersetzung, wenn man diesen Prozess eben auch als einen Teil der Erinnerungskultur verstehen möchte. Gerade vor diesem Hintergrund sind die angesprochenen Netzwerke in dem weiten Feld der Demokratiegeschichte besonders wichtig.

Ich betone es immer wieder: Die Gründung der Stiftung steht daher ja in einem größeren erinnerungskulturellen, erinnerungspolitischen Kontext. Ich finde es sehr spannend zu sehen, dass hier aus einer Bottom-up-Bewegung von Aktiven in der Szene, in enger Zusammenarbeit mit dem Bund und BKM und bereits länger etablierten Akteuren auf dem Gebiet, sehr schnell etwas gewachsen ist.

Die Genese der Stiftung hängt auch mit dieser Entwicklung zusammen, weil man eben sowohl bei den Aktiven als auch bundespolitisch gemerkt hat, dass das Thema Relevanz hat und die Beschäftigung mit der Demokratiegeschichte einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung an sich zu leisten vermag.

Ich möchte es nochmal anders formulieren. Der Zivilisationsbruch 1933 bis 1945, das war natürlich auch ein Bruch mit demokratiehistorischen Traditionen. Die Nationalsozialisten hatten überhaupt kein Interesse daran, gewisse Personen, Prozesse, Ereignisse, Themen der Demokratiegeschichte zu tradieren, in der Erinnerung zu behalten. An dem Effekt dieser Damnatio memoriae, wenn ich es mal so sagen möchte, laborieren wir immer noch herum.

Wie viele Straßen sind denn nach Parlamentariern in der Paulskirche benannt? Wie präsent sind denn diese Themen in der aktuellen Erinnerungskultur? Bei den Aktivisten sicherlich, aber in einer breiteren Öffentlichkeit?

Wir müssen uns klarmachen, dass dieser Effekt, den die Nationalsozialisten verursacht haben, in gewisser Weise immer noch nachwirkt. Deswegen sage ich auch: Ein zentraler Kernpunkt unserer Erinnerungskultur ist und muss das „Nie-Wieder“ bleiben. Grundgesetz Artikel 1, das ist die Antwort auf die Auseinandersetzung mit 1933 bis 1945. Und in Ergänzung formulieren wir mit Blick auf den Unrechtsstaat der SED, die zweite deutsche Diktatur, ebenso ein „Nie wieder“ in klarer Abgrenzung unserer demokratischen Kultur zu allen totalitären Staatsformen und Diktaturerfahrungen unserer Geschichte.

Ich glaube, es ist wichtig, dass man komplementär, nicht alternativ diesen Blick auf die Demokratiegeschichte weiterentwickelt. Den könnte man vielleicht ebenso plakativ mit „Immer wieder“ überschreiben im Sinne von: immer wieder Verfassung, immer wieder Wahlen, immer wieder Parlament, immer wieder Einstehen für freiheitlich-demokratische Grundwerte und so fort.

Dazu gehört eben auch, den Blick immer wieder auf diesen Teil unserer Freiheits-, Parlaments- und Verfassungsgeschichte zu lenken, ohne dass ich das an dieser Stelle als heroisierende Demokratiegeschichte verstanden wissen möchte. Im Gegenteil. Demokratiegeschichte ist gerade wegen ihrer Ambivalenzen interessant.

Sie zeigt mit Blick auf die Orte, Personen, Bewegungen und Prozesse eben immer wieder auch nach unserem heutigen Demokratieverständnis Defizite auf, auch bei den Personen, an die wir in der Demokratiegeschichte erinnern. Das sind nicht alles die lupenreinsten Demokraten und Demokratinnen gewesen. Und gerade in dieser differenzierten Betrachtung wird es ungemein spannend.

Da kann diese Perspektive, dieses „Immer wieder“, sich auch mit diesen Themen zu beschäftigen, eben vielleicht auch ein Stück weit Orientierung bieten, vor allem mit Blick auf Haltung.

Was wir brauchen, ist Haltung. Das ist eine Meinung zu bestimmten Dingen. Was geht und was nicht geht. Was in einer Demokratie in Ordnung ist und was eben nicht in Ordnung ist. Thema Hass, Hetze, Überschreiten von Grenzen und das Nicht-mehr-Respektieren, dass meine Freiheit auch dort enden kann und muss, wenn ich die Freiheit eines anderen bedränge, verletze oder Grenzen überschreite.

Der Blick in die Geschichte bietet hier zahlreiche Ereignisse, Prozesse, Personen und Orte, an denen man das genau studieren und sich daran orientieren kann. Darin liegt, finde ich, der Wert in dieser Beschäftigung für eine aktuelle Demokratiebildung und Vermittlung. Genau darauf hinzuweisen und sich an Beispielen zu orientieren, oder eben auch Beispiele in den Blick zu nehmen, die deutlich machen: so besser nicht.

Deswegen sind das keine alternativen erinnerungskulturellen Bereiche, sondern das muss stets immer miteinander verzahnt sein und verzahnt bleiben, zumal es ja auch ganz spannende und wichtige Schnittstellen gibt. Manchmal ist es einfach das perspektivische Vorzeichen, unter dem man einen Prozess, einen Ort, eine Bewegung oder eine Initiative als Teil der Demokratie- oder eben der Diktaturgeschichte betrachten und verstehen kann, um hier mit den Stichworten Opfer- bzw. Täterperspektive nur ganz schlaglichtartig den weiten Horizont andeuten zu können, der sich hier öffnet.

Dann nehmen wir das als Schlusswort. Ich bedanke mich vielmals für das Gespräch und, wie wir vorhin schon sagten, wir sehen uns auf jeden Fall in Leipzig.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar