Der Zug schleicht mit der üblichen Verspätung in den Hauptbahnhof ein. Ein Zweckbau aus den Jahren nach dem Kriege, kalt wie eine Fabrikhalle. Die Einkaufszone im Kopf des Bahnhofes ist nicht zugänglich, hier arbeiten hinter Planen und Sichtschutzhüllen hunderte Bauarbeiter. Sie werkeln an einem neuen Bahnhofsgebäude, das zugleich das Aushängeschild der Stadt werden soll.
Eine großformatige Architektenzeichnung am Ende des Querbahnsteiges zeigt himmelwärts strebende Glasfassaden, die eine Kubatur aus Glasfassaden ergeben, deren in sich geschachtelte Glasfassaden die Modernität von Glasfassaden bestätigen. Armes München! Aber wer will schon etwas gegen die Moderne sagen?
Das Alte, noch ein wenig im Seitenflügel spürbar, wohl denkmalgeschützt, ist klassisch gebaut: Sockel, natursteingerahmte tiefe Fenster, Gesims. Mitnichten stammt der Seitenanbau aus einer wirklich klassischen Zeit, also der hohen Zeit der Aufklärung, sondern einer finsteren, deren Potentat sich mit dem Rückgriff auf das wohlgefällige Erbe die Rechtfertigung für seine Herrschaft herleiten wollte.
Nun der Glaskasten. Wäre er nicht so großformatig, stattdessen etwa auf Zeitungspapier gedruckt, ich hätte ihn zum Einwickeln benutzt. Was die Münchner einst damit anfangen werden – ich weiß es nicht.
Ich hatte die Stadt bislang zweimal erlebt. Das erste Mal ist dreißig Jahre zurück. Im Februar. Sauber herausgeputzt, mit wohlhabenden, gefällig anzusehenden Leuten, deren Lautäußerungen ruppig und hart klangen, aber freundlich gesinnt waren. Der Überhang der noch guten alten Bundesrepublik.
Das zweite Mal
Beim zweiten Mal ist wieder Winterende, Zeit der Veränderung. In welche Richtung sie geht, ist unklar. Es blüht uns bald was, das wenigstens ist gewiss. Überall Polizei und Menschengedränge in den Straßen – eine große Konferenz findet statt. Ich passiere die Obdachlosen an den seitlichen Bahnhofsausgängen, begebe mich für die Stunde meines geplanten Aufenthaltes in die Straßen, um möglichst tief ins Zentrum vorzustoßen.
Die schmale Gasse zum Stachus leerstehend. Die großen Kaufhäuser sämtlich verödet. Bauzäune versprechen Abriss und moderne Architektur: Glas. Armes München.
Polizeisirenen huschen über den lichterblinkenden Asphalt, und Menschenmassen schieben sich durch das Karlstor. Vornehme Eleganz mischt sich mit der typischen Saloppheit des Massentourismus. Wortfetzen schwirren umher, international und wohl süddeutsch, aber die raue, klobige Sprache von früher – die ist einem gaumenweichen Näseln gewichen.
Wieder Baustellen. Die Stadt wird nie fertig. War sie überhaupt einmal vollendet? Und wann? Vor dem großen Krieg, bis dieser sie mit Bomben überzog? So suggerieren es die Schwarzweißfotopostkarten und Bildbände der Bücherläden. Oder doch die Stadt nach dem Biedermeier mit dem erst halben Rathausbau?
Zu jeder Zeit erhebt das Urbane Anspruch auf Fertigkeit, und das in Projekten festgeschrieben Unbebaute wird zu einem Teil ihrer Existenz. Aufgebrochen wird diese Zeitkapsel vom Andersgebauten und vom Zerstörten.
Eine lange Fassade in der steinverkleideten Nüchternheit der Nachkriegsarchitektur trägt ein Korsett. Dahinter gähnende Leere. Gleich über mehrere Grundstücke und Fassadenteile erstreckt sich die Baugrube. Wozu der Erhalt dieser dünnen Wand? Hat man Angst, wenn der Moderne freie Hand gelassen, dass sie mit der ihr innewohnenden Arroganz des Anachronismus Unerwartetes gebiert, etwa Glas? Nichts als Glas in einer der romantischen Seitengassen, abgelöst von einem Hochparkhaus.
Ich fliehe in Sankt Michael, komme dort auch nicht zur Ruhe. Wenngleich das riesige Gewölbe den Blick ins Unendliche leiten will, bleiben die Gedanken bei den Schautafeln im Eingangsbereich hängen. Bombenschäden sind darauf abgebildet. Die aus dem großen Krieg.
Von dem mit Sockel, steinernen Fensterrahmen und Gesims. Die waren schlimm, die Zerstörungen der Häuser, noch schlimmer die der Menschen. Stolz noch heute die Kunde von der raschen Reparatur in Zeiten des Mangels. Und just in dem Moment des Gewahrwerdens der Lektüre an den Tafeln brennt der Krieg in Europa.
Frieden
Nebenan, einen Steinwurf vom Altar entfernt … Das heißt, wenn die Chorfenster wie damals zersplittert wären, dann gelänge der Steinwurf tatsächlich und würde über zwei Häuserreihen hinweg die Rückseite der noblen Herberge treffen, in der sich Vertreter aus vielerlei Nationen unter der Ägide der führenden versammelt haben, um den Krieg anzuheizen.
Und Ihr da drinnen unter Eurem Renaissancegewölbe habt nichts anderes zu vermelden, als die Reparatur eines Deckenschadens vor siebzig Jahren? Eure Glaubensbrüder sprechen von „Zeit für Waffen“, deuteln an Jesu Lehre, um den künftigen Waffengang unserer Kinder und Enkel zu bahnen! Aber Ihr schweigt dazu?
Mich zieht es sofort wieder hinaus in die Straßen, wieder allerorten Polizei, will fragen, ob man eine Gegendemonstration, eine für den Frieden, erwarte. Ich frage nicht und biege – die Uhr mahnt zum Rückweg –, kaum den Rathausplatz eingesehen, die Frauenkirche passiert, nach vielen Schritten in die breite Ringstraße ein. Und da sind sie: Fettbeleibte schwarze Limousinen, frech quer über den Fußweg geparkt, hektisch beäugt von Sicherheitskräften. Sicherheitskonferenz.
Kreischend farbige Leuchtreklamen sind jetzt angeschaltet, der bunte Verkehr schiebt sich lauthals durch die Straßen – doch München schweigt. Mein Schritt eilt; seitlich nähere ich mich dem Stachus und sehe sie liegen: Bettler über Bettler in ihren Schlafsäcken. Gab es sie auch vor dreißig Jahren, als ich hier war? Hatte ich sie übersehen? Oder wollte ich sie damals nicht sehen?
Nun ein drittes Mal nähere ich mich der Stadt. Das war vor wenigen Tagen. Ich bin quasi auf der Durchreise von hier nach da. Im Zug blicke ich nachdenklich aus dem Fenster. Nicht weit vom Kopfbahnhof springt mir ein Graffiti ins Auge: Peace, Frieden, hat da jemand mit übergroßen Buchstaben geschrieben. Ein Stein fällt mir vom Herzen. München schweigt nicht.
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