Was sich bei den Europawahlen schon abzeichnete, ist am vergangenen Sonntag, dem 7. Juli 2024, in Frankreich eingetreten: Eine seit Wochen herbeigeschriebene Zwangsläufigkeit, dass den Rechtsnationalisten in Europa der Durchmarsch gelingt, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Die Wahlerfolge der rechtsextremen AfD, des Rassemblement Nationale (RN), der Melonie-Partei Fratelli d‘Italia (FdI) am 9. Juni 2024 haben bei uns leider verdeckt, dass in anderen europäischen Ländern rechtsextreme Parteien keinen durchschlagenden Erfolg hatten.
All dies geschah, während sozialdemokratische Parteien und demokratische Bündnisse Gewinne erzielen konnten: Portugal, Spanien, Niederlande, die skandinavischen Länder, vor allem aber auch Polen, wo die PIS-Partei zum ersten Mal nicht stärkste Partei wurde, und Ungarn, wo die Fidesz-Partei ihre absolute Mehrheit verlor. Nach dem 9. Juni 2024 gewann in Großbritannien die Labour Party die Unterhauswahlen am 4. Juli 2024 deutlich.
Und nun Frankreich: Entgegen aller Prognosen landete der rechtsextreme RN im 2. Wahlgang zur Nationalversammlung auf dem dritten Platz hinter dem Parteienbündnis der Linksparteien Nouveau Front populaire (NFP) und der Partei von Präsident Macron namens Ensemble. Damit ist das Schreckensszenario einer absoluten Mehrheit des RN in der französischen Nationalversammlung nicht eingetreten. Das ist für die Demokratie in Europa und für die europäische Einigung zunächst ein gutes Zeichen.
Es zeigt, dass nichts so kommen muss, wie vorhergesagt. Allerdings gibt es einen mehr als großen Wermutstropfen: Nach den abgegebenen Stimmen kommt der RN auf 37 %, der NFP auf 28 % und die Macron-Partei Ensemble auf 20 %. Dass sich dieses Stimmverhältnis nicht in der Nationalversammlung abbildet, liegt am Mehrheits-Wahlsystem in Frankreich.
Vor diesem Hintergrund ist es völlig unangebracht, davon auszugehen, dass sich jetzt die Ambitionen des RN und von Marine Le Pen auf eine Machtergreifung in Frankreich erledigt hätten – Machtergreifung deshalb, weil der RN nur regieren will, wenn er die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erringt. Zwei Gründe sprechen nun dafür, dass der RN von der derzeitigen Lage profitieren könnte:
- Frankreich hat keine Erfahrung mit Koalitionen. Eine Koalition ist aber notwendig, wenn die demokratischen Parteien eine Regierung bilden wollen, die sich auf eine Mehrheit in der Nationalversammlung stützen kann.
- Die Parteien sind in Frankreich in ihrer Politik nicht auf Kompromiss ausgerichtet. Das gilt leider auch für den Präsidenten Frankreichs. Schon das Parteienbündnis NFP (Linke, Sozialdemokraten, Grüne) wird alle Mühe haben, sich auf einen Vorschlag für den Ministerpräsidenten oder die Ministerpräsidentin zu verständigen. Eine Koalition zwischen NFP und der Macron-Partei scheint derzeit ausgeschlossen.
Wer am Sonntagabend die Rede von Jean-Luc Mélenchon, dem Anführer der größten Gruppierung „La France insoumise“ (unbeugsames Frankreich) innerhalb des NFP, gehört hat, wird sich verwundert die Augen gerieben haben: Da sprach Mélenchon wie einer, der die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung gewonnen hat. Denn er forderte mit kompromissloser Entschiedenheit die sofortige Umsetzung aller politischen Ziele seiner Partei.
Doch eine solche Strategie würde nur dazu führen, dass Frankreich politisch gelähmt sein und ins Abseits geführt wird. Das aber hätte zur Folge, dass die Rechtsnationalisten davon profitieren. Der RN verspricht wie alle rechtsnationalistischen Parteien Radikallösungen sofort – jedoch auf Kosten der demokratischen Vielfalt, der Menschenrechte, der rechtsstaatlichen Freiheit, der europäischen Einigung.
Das Wahlergebnis aber zeigt, dass Frankreich nur zu regieren ist, wenn sich die Bevölkerung wie der Präsident darauf einstellen, sich über Parteigrenzen hinweg zu verständigen – und dabei vor allem die europäische Einigung und die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht aus den Augen zu verlieren. Mélenchon ist aber weder an der deutsch-französischen Freundschaft noch an einem vereinten Europa sonderlich interessiert – und darin durchaus vergleichbar mit dem RN von Marine Le Pen.
Letztlich steht Frankreich vor der gleichen Herausforderung wie Deutschland: eine Koalition zu bilden, die ein breites Meinungsspektrum der Bevölkerung abbildet und die in der Lage ist, auf dieser Grundlage eine sozial gerechte, die Wirtschaft fördernde und dem Klimawandel entsprechende Politik zu machen und dabei die EU als den Frieden sicherndes Projekt zu fördern.
Gerade Letzteres ist aber nur möglich, wenn die Rechtsnationalisten gestoppt werden. Denn sie werden alles daransetzen, die EU langfristig zu zerstören, um ihre je eigenen nationalistischen Interessen durchzusetzen -einschließlich imperialer Macht- und Gebietsansprüche. Niemand soll sich täuschen: Jede Form von Nationalismus trägt den Keim des nächsten Krieges auf europäischem Boden in sich!
Auf diesem Hintergrund ist der Ausschluss der AfD aus der neugebildeten Fraktion der Rechtsextremen nicht etwa ein Zeichen dafür, dass die AfD noch extremer ist als andere rechtsradikale Parteien in der EU. Nein: Der Grund liegt in einer schon jetzt offen kommunizierten Frontstellung vor allem des RN gegen Deutschland. Darum ist es völlig abwegig, den RN oder FdI oder die FPÖ als weniger extrem anzusehen als die AfD. Alle rechtsextremen Parteien stehen der AfD in ihrer menschenverachtenden, europafeindlichen, nationalistischen Ideologie in nichts nach.
Was das nun für Deutschland bedeutet? Es muss alles getan werden, um die AfD von den Schalthebeln der Regierungsmöglichkeit fernzuhalten. Dazu ist es notwendig, dass die demokratischen Parteien ihre Bereitschaft zu Koalitionen ebenso deutlich signalisieren, wie sie im Wahlkampf ihre programmatische Eigenständigkeit profilieren. Eine Stimme für eine demokratische Partei ist nie eine verschenkte.
Es kommt nicht darauf an, dass die CDU stärkste Partei wird. Es kommt darauf an, dass die AfD so wenig Stimmen wie möglich erhält und dass die demokratischen Parteien eine Regierung bilden können. Dies ist eine Entscheidung, die in der Hand eines jeden Bürgers, einer jeden Bürgerin liegt. Sie, jeder von uns also, tragen die Verantwortung!
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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