Das Ergebnis der Europawahl und der Kommunalwahlen in vielen Bundesländern am 09. Juni 2024 ist in jeder Hinsicht ernüchternd, die Reaktionen bei vielen Menschen einen Tag danach entsprechend entsetzt: Wie kann das sein, dass die rechtsextremistische, nationalistische und in Teilen faschistische AfD bundesweit so stark zulegt?
Das Erschreckende: In diesem Ergebnis ist kein Ausdruck von Protest, kein Versagen anderer Parteien zu erkennen. In den Wahlergebnissen wird sichtbar, dass viele Wähler/-innen im vollen Wissen um die Absichten der Rechtsextremisten ihre Stimme der AfD oder noch radikaleren Gruppierungen wie den „Freien Sachsen“ gegeben haben – nicht weil Millionen erwerbsloser Menschen vor Arbeitsämtern stehen, nicht weil Millionen Menschen verarmen, nicht weil unser Land vor dem Abgrund steht.
Nein, offensichtlich haben bis zu 30 % der Wähler/-innen und mehr eine indifferente Angst um den Erhalt ihres oft hohen Lebensstandards. Sie sehen ihn weniger bedroht durch Eruptionen des Klimawandels wie Überschwemmungen als durch Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen. Das möchten AfD-Wähler/-innen lieber heute als morgen beenden – und lassen ihrer Fremdenphobie freien Lauf.
Ein schon lange rumorender Lebensverdruss, eine durchaus aggressiv-angstbesessene asoziale Egomanie, der Mangel an einem inneren Krisenmanagement, das einem Menschen Orientierung verleiht, einen resilienten Umgang mit Verwerfungen und Ängsten ermöglicht, verleiten offensichtlich Millionen Wähler/-innen ihre Stimme denen zu geben, die genau diese selbstbezogene Gefühlslage durch Fakes, Tiraden und Zerrbilder schüren und mit dem Versprechen von kultureller Abschottung, gesellschaftlicher Homogenität und nationalistischer Überheblichkeit Abhilfe vorgaukeln.
Das ist auch der Grund dafür, dass das Verstecken der AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl offensichtlich keinerlei negative Folgen auf das Wahlergebnis für die AfD hatte. Vielmehr erfolgt die Zustimmung für die AfD per Wahlzettel im vollen Wissen um die Absichten der Rechtsnationalisten, ihrer Machenschaften und Skandale:
- die Demokratie, Vielfalt, Offenheit, Freiheit zu zerstören, das „System“ zu überwinden und mit den „Alt-Parteien“ aufzuräumen durch die Errichtung einer sog. Volksherrschaft (wobei zum „Volk“ nur die gehören, die sich dieser Herrschaft unterwerfen);
- Europa mit der „Abrissbirne“ zu zertrümmern – so nicht nur der gerade gewählte Leipziger AfD-Europaabgeordnete Siegbert Droese;
- durch Nationalismus den Keim für neue Kriege zu legen.
Letztere Absicht wird nur notdürftig verdeckt durch den aberwitzigen Versuch der AfD, sich als „Friedenspartei“ aufzuspielen. Da wird ein Waffenstillstand mit Russland gefordert, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was aus der von Russland überfallenen Ukraine werden soll – um so Russland zu überlassen, wie viele Gebiete der Ukraine sie sich mit einem Friedensschluss einverleiben will.
Das ist insofern folgerichtig, als die antieuropäische Politik der AfD nichts anderes bedeutet, als die Grundlage für nationalistische, notfalls militärisch durchzusetzende Gebietsansprüche zu schaffen.
Anders gesagt: Die gleichen Leute, die jetzt die Abrissbirne aktivieren, um Europa zu zerstören und um einen nunmehr autonomen und autarken deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas zu etablieren, werden im nächsten Schritt – nachdem alle politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Verbindungen zu den Nachbarländern gekappt bzw. einfroren worden sind, Gebietsansprüche auf das Elsass, Nord-Schleswig oder Pommern, Ostpreußen, Schlesien geltend machen.
Übertreibung? Hoffentlich erweist es sich in den nächsten Jahren so! Aber ich mache mir keine Illusionen. Wenn jetzt ein Neonazi und Hitler-Verehrer wie Tommy Frenck bei der Landratswahl in Hildburghausen/Thüringen im 2. Wahlgang über 30 % der Stimmen auf sich vereinigen kann, verbietet sich jede Schönfärberei. Die Landkarten von einem Deutschland in den Grenzen von 1937 hängen nicht nur in den Hinterzimmern schmuddeliger Nazi-Treffpunkte.
Das alles ist denjenigen, die AfD gewählt haben, voll bewusst – und sie haben dennoch keine Skrupel mit der Anschlussfähigkeit der AfD zur Nazi-Zeit, keine Vorbehalte gegen die Höckes, Gaulands, Krahs: Denn das war doch in den 12 Jahren alles nicht so schlimm, wie behauptet wird … nicht jeder SS-Mann war ein Verbrecher … und überhaupt: Ist die Erinnerungskultur nicht ein Produkt der westlichen Siegermächte, die den Deutschen jahrzehntelang eingetrichtert wurde von den bundesdeutschen Eliten, von denen sich das Volk nun befreien muss? Ist darum die Stimmabgabe für die AfD nicht eine Art Befreiungsakt von Bevormundung wie zu DDR-Zeiten?
Übertrieben? Ich fürchte, nein. Wir werden erst dann, wenn wir an der Stimmabgabe für die AfD nichts mehr beschönigen, eine Chance haben. Die AfD wird nicht trotz, sondern wegen ihres Rechtsextremismus, wegen ihrer Ausländerfeindlichkeit, wegen ihrer Verachtung der parlamentarischen Demokratie gewählt! Es wird höchste Zeit, dass wir die Bürger/-innen, die die Stimmabgabe für die AfD vollzogen haben, ernst nehmen und nicht mehr wie Dummerchen behandeln und damit verantwortlich machen für ihre politische Entscheidung.
Es wird höchste Zeit, dass wir die große Gefahr erkennen, von der unsere freiheitliche Demokratie bedroht ist: Zu viele Menschen haben sich in allen Bevölkerungsschichten von den Grundlagen eines zivilen Zusammenlebens, von der Menschenwürde, von gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme, von Internationalität und Vielfalt, von dem Schutz des beschädigten Lebens und von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses verabschiedet.
Das ist übrigens eine der Folgen der zunehmenden Abkehr vieler Menschen von den christlichen Kirchen. Hinzu kommt in Ostdeutschland: Zu viele Menschen verstehen bis heute die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 nicht als Ergebnis der europäischen Einigung, sondern als Gründung eines eigenständigen deutschen Nationalstaates. Darum die leichtfertige Dexit-Stimmung und die Sehnsucht nach politischer und kultureller Abschottung.
Wollen wir uns dafür in Mithaftung nehmen lassen? Ich hoffe nicht! Genau das aber würde passieren, wenn wir nun den Narrativen der Rechtsextremisten folgen oder ihnen nachgeben, wenn wir sozusagen deren Absichten ein bisschen glätten, übernehmen und dann meinen, Wähler/-innen zurückgewinnen zu können. Das wird nicht funktionieren.
Darum gibt es nur einen Weg: Zum einen müssen die demokratischen Parteien ein glaubwürdiges Politikangebot machen, um verantwortliches Mittun, Zuversicht und offene Debatte zu fördern; zum andern müssen wir uns im Schulterschluss der demokratischen Parteien noch klarer, noch deutlicher den Rechtsradikalen widerstehen; und schließlich sind alle gesellschaftlichen Akteure aufgerufen, die Resilienz des Einzelnen zu stärken, dem allgemeinen Verdruss und der asozialen Egomanie zu widerstehen.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
Es gibt 7 Kommentare
Auf eins kann man sich immer verlassen, Herrn Wolff’s Affektkommentare zu solchen Themen. Und auch auf was zweites, Schuld sind immer die Bösen.
Den Wähler die Schuld zu geben ist ja richtig krass und zu dem Thema Waffen-SS nur ein paar Namen:
– Günter Grass (Nobelpreisträger, Schriftsteller): 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“
– Hardy Krüger (Filmschauspieler, Schriftsteller): 38. SS-Grenadier-Division „Nibelungen“
– Horst Tappert (Filmschauspieler, „Derrick“): 3. SS-Panzer-Division „Totenkopf“
– Herbert Reinecker (Journalist, Autor von Jugendbüchern, Romanen und Drehbüchern): 14.
Kompanie des SS-Panzergrenadierregiment 1 „Totenkopf“
– Bernhard Heisig (Maler, u. a. Lehrer von Neo Rauch): 12. SS-Panzer-Division „Hitlerjugend“
– Otto Beisheim (Metro-Mitbegründer, Unternehmer): 1. SS-Panzer-Division „Leibstandarte SS Adolf
Hitler“
– Hans Robert Jauß (Literaturwissenschaftler und Romanist): SS-Freiwilligen-Panzergrenadier–
Brigade „Nederland“
– Franz Schönhuber (Journalist und Politiker): 33. Waffen-Grenadier-Division der SS „Charlemagne“
– Eberhard Cohrs (Filmschauspieler, Komiker): Rottenführer, Wachmannschaft des KZ
Sachsenhausen
– Henri Nannen (Gründer, Herausgeber und Chefredakteur des Magazins „Stern“): SS-Standarte
Kurt Eggers, Propagandakompanie „Südstern“
Quelle Wikipedia
Wiederholt wilde Thesen eines Anhängers einer undemokratischen Institution, genannt Kirche, mit erkennbaren masochistischen Neigungen (SPD Mitglied), der scheinbar, wie viele andere auch, noch immer aus einer Blase heraus argumentiert und Wähler beschimpft, bevormundet und erklärt daß die doofen Ossis nix verstanden haben, noch nichtmal sich belehren und bekanzeln zu lassen. Waffenstillstand? Wo kommen wir denn dahin, geht gar nicht, bäh – sind wohl “nur” UkrainerInnen die da sterben (neben den Söldnern, CIA und NATO Soldaten), ach ja und Russen. Wo bleibt da der der Christengott? Man befürchtet er/sie schläft schon wieder.
Selbstredend ist das Ergebnis Ausdruck von Protest und Angst, eine Klatsche für die stramm rechte + transatlantisch dienend führende Kriegsampel. Man erkennt das leicht auch am BSW, was der zweite Wahlgewinner war. Die AfD und andere Niedrigleister brauchten noch nichtmal ernsthaft Werbung machen (außer im Internet), oder sich inhaltlichen Diskussionen stellen. Die Leute merken es halt im Geldbeutel (ja bei Millionen Menschen – im Gegensatz zum Pfaffen), daß die (NATO) Kriegstreiberei finanziert werden muss. Fakten: Keine Aufklärung des größten Terroranschlags der BRD Geschichte (NS2), keine Aufklärung des größten Finanzverbrechens der BRD (Hauptrolle der Kanzler des Vergessens), keine Diplomatie um Kriege zu verhindern / zu beenden, Unterstützung von Kriegsverbrechern (IGH + IStGH Israel / Gaza usw.), Erhöhung des CO2 Ausstoßes + weitere Rodungen, wackelige Staatsfinanzen (ja es wird noch knapper) und massive Denunziationen Andersdenkender, soziale Kürzungen, Erhöhung der SV Beiträge für ArbeiterInnen, massive Erleichterungen für Reiche, enorme Beleidigung des Stimmviehs usw.
Manche Medien, deren inflationärer und damit geschichtsvergessener Gebrauch der Worte “Nazi” / “Fascho” o.ä. (die es zweifelsfrei gibt, aber eben nicht alle und schon gar nicht all deren Wähler) haben die AfD für Protestwähler wählbarer gemacht. Darauf kommt man eben nicht ohne Reflexion (Schuld sind halt immer die anderen).
Nur weiter so, schließlich können sich 1000 Lemminge nicht irren – meint Wahlbeobachter Hearst.
Fragt sich bloß, wen der Pseudo-Gohliser mit seinen faschistoiden Dauerfloskeln und neurechten Verschwörungsmärchen hier belügen möchte, anscheinend nur sich selber. Denn eine derart dreiste und “deutschsubtile” Relativierungs- und Kampfrhetorik, die so durchschaubar ist, habe ich bis dato noch nicht einmal von das “urs” gesehen! 😀
Meinen “Glückwunsch” für diesen polemischen Griff ins Klo, paßt ja auch offensichtlich politisch bezüglich der Ausrichtung des Pseudo-Gohliser.
Faschisten erhalten außerdem keine Grüße, aber “outen” können sich diese zwecks Vermeidung jeglichen Austauschs gerne.
Sebastian Thurm
Es geht mir nicht ums Relativieren, ich habe nicht meine eigene Meinung zum Ausdruck gebracht (es gibt schon zu viele Meinungen in den Medien, leider auch hier), sondern versucht zu erklären, wo ich einige (nicht alle!) Ursache sehe – Ursache ist nicht gleich Meinung, und ich glaube, dass das empririsch einigermaßen hinkommt. Es geht nicht um die Frage, ob all das “herbeigeredet” oder “eingebildet” ist, sondern darum, ob es wirkt – und das Eingebildete wirkt oft stärker als das Reale. Deshalb fragen Statistiker auch oft nach “Gefühlen”, z.B. “Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?” Und da zeigt sich, dass sich in diesem Punkt noch nie so viele Menschen im vereingten Deutschland so unfrei fühlten wie heute: Die Ergebnisse gibts hier:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1067107/umfrage/umfrage-zur-meinungsaeusserung-in-deutschland/
Ein sehr kluger Kommentar von Christian Wolff! Und als erster Kommentar ein Relativierer, der die Ursachen selbstredend auf der anderen politischen Seite verorten will. Eingelullt vom allgewärtigen rechten Opfermythos, von herbeigeredeten oder eingebildeten Feindbildern wie “woken Aktivisten”, “Sprachpolizei” und “Political Correctness”. Die es allesamt in der Realität gar nicht gibt. Wirklich erbärmlich!
Ich sehe das anders. Ich denke, es war kein Rechtsruck, sondern ein Linksrutsch. Das heißt von links weg nach rechts. Die Ursache aber liegt links, wo das Parkett durch woke Aktivisten, die allgemeine political correctness und Sprachpolizei sowie eine als bevormundend wahrgenommene Form der Politik und Welterklärung glatt geworden ist, so glatt, dass einige Leute lieber rechts auf die guten alten deutschen Eichenholzdielen treten, denn die versprechen ihnen nicht nur mehr Standsicherheit, sondern auch Langlebigkeit. Vielleicht links bisschen mehr Eichenholzdiele wagen, als die Waage von Erziehung und Reinheit in allen Lebensbereichen ständig neu zu justieren und alle, die nicht der links-grünen Supernorm entsprechen, (verbal) auszusortieren.