In der รถffentlichen Debatte um die zukรผnftige Ausrichtung der Europapolitik wird nur selten auf die Prรคambel des Grundgesetzes zurรผckgegriffen. Das ist umso erstaunlicher, als diese Prรคambel von den Verfassungsvรคtern und -mรผttern zu einem Zeitpunkt (1948/49) formuliert wurde, als von einem vereinten Europa allerhรถchstens als einer Vision gesprochen werden konnte.

Leider ist auch aus dem รถffentlichen Bewusstsein entschwunden, dass die Deutsche Einheit 1990 nur erreicht werden konnte, weil Deutschland eingebettet war in die Europรคische Union. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl wies darauf hin, dass โ€ždie deutsche Einheit und die europรคische Einigung โ€ฆ zwei Seiten einer Medaille sind.โ€œ 

Das vereinte Europa war also notwendige Bedingung fรผr eine Verstรคndigung auf die Vereinigung der BRD und DDR in den sogenannten Zwei + Vier-Verhandlungen. Niemals hรคtten Frankreich oder England der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter der Bedingung eines eigenstรคndigen Nationalstaates zugestimmt.

Wie aber lautet die Prรคambel des Grundgesetzes? โ€žIn dem Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.โ€œ

Seit 75 Jahren versteht sich die Bundesrepublik Deutschland als โ€žGlied in einem vereinten Europaโ€œ. Daran haben auch die tiefgreifenden Verรคnderungen in Folge der Friedlichen Revolution 1989/90 nichts geรคndert. Das vereinte Europa ist fรผr die Bundesrepublik Deutschland Staatsziel und nicht eine politische Option, die jederzeit wieder einkassiert werden kann. Das wird auch durch das Ergebnis der Zwei + Vier-Verhandlungen unterstrichen.

1990 kamen die Bundesrepublik Deutschland, die DDR, die Franzรถsische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Kรถnigreich GroรŸbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika รผberein, โ€žin Wรผrdigung dessen, dass das deutsche Volk in freier Ausรผbung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souverรคnes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.โ€œ (Abs. 10 der Prรคambel des Einigungsvertrages).

Darum bewegen sich alle politischen Gruppierungen, die einen deutschen Nationalstaat รผber die europรคische Einigung, รผber die EU stellen wollen, nicht nur auf sehr dรผnnem Eis. Diejenigen, die โ€“ wie die europafeindliche AfD โ€“ den Austritt der Bundesrepublik aus der EU propagieren, handeln verfassungswidrig. Das kann man nicht oft genug betonen.

Denn mit ihrem ihre wahren Absichten verharmlosenden Slogan โ€žEuropa neu denkenโ€œ will die AfD darรผber hinwegtรคuschen, dass ihre Kandidat/-innen zur Europawahl die EU mit der โ€žAbrissbirneโ€œ beseitigen wollen.

Doch dem steht Artikel 23 Abs. 1 GG entgegen: โ€žZur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europรคischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und fรถderativen Grundsรคtzen und dem Grundsatz der Subsidiaritรคt verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewรคhrleistet.โ€œ *

Mit anderen Worten: Das vereinte Europa ist als Staatsziel gesetzt. Es ist Voraussetzung und Bedingung fรผr die Staatlichkeit Deutschlands. Das Deutschland des Grundgesetzes kann nicht gedacht werden als nationaler Einzelstaat, sondern nur im Verbund, eben als โ€žGliedโ€œ (Prรคambel GG) eines vereinten Europas. Offen bleibt nur, ob sich das vereinte Europa als Staatenbund oder Bundesstaat versteht. Von der Genese des Grundgesetzes her gesehen haben die Verfassungsvรคter und -mรผtter im Blick auf ein vereintes Europa eher an einen Bundesstaat mit fรถderaler Struktur (Vereinigte Staaten von Europa) gedacht.

Aber selbst wenn man eher an einen Staatenbund denkt, heiรŸt das fรผr die Bundesrepublik Deutschland: Auch im Staatenbund ist sie Teil des vereinten Europas. Eine Option, diesen zu verlassen, kรถnnte es nur unter der Bedingung geben, dass der Staatenbund in Gรคnze die โ€ždemokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und fรถderativen Grundsรคtzeโ€œ und die Grundrechte nicht mehr gewรคhrleistet.

Umgekehrt bedeutet dies: Deutschland als Teil โ€žin einem vereinten Europaโ€œ muss seine Rechtsordnung dem europรคischen Verfassungsrecht ein- und unterordnen.

Wenn wir heute รผber die Weiterentwicklung der EU diskutieren, dann gilt es drei Grundsรคtze zu beachten:

  1. Die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa ist mit dem Grundgesetz nicht nur vereinbar. Sie ist unter den Bedingungen von Art. 23 GG die bessere Option, um Europa insbesondere auf dem Gebiet der AuรŸen-, Friedens- und Sicherheitspolitik handlungsfรคhig zu machen.
  2. Eine Aufkรผndigung des Staatenbundes oder eines Bundesstaates ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen.
  3. Eine fรถderale Struktur der Staatengemeinschaft im vereinten Europa ist ein Garant dafรผr, dass nationale und regionale Interessen ausreichend Berรผcksichtigung finden.

Insgesamt kann man sich im 75. Jahr des Grundgesetzes vor der Weitsicht der Verfassungsvรคter und -mรผtter nur verneigen. Denn sie haben mit dem in der Prรคambel verankerten Staatsziel, โ€žGlied in einem vereinten Europaโ€œ zu sein, sowohl die Konsequenzen aus dem kriegstreibenden und demokratiefeindlichen Nationalismus gezogen, wie die Voraussetzung fรผr den europรคischen Friedensprozess bis 1990 geschaffen. Beides gilt es fรผr die Weiterentwicklung der Europรคischen Union und fรผr eine neue, tragfรคhige Friedensordnung in Europa fruchtbar werden zu lassen.

* Bis 1990 beschrรคnkte Art. 23 GG die Gรผltigkeit des Grundgesetzes auf die Gebiete, die damals zur Bundesrepublik gehรถrten. โ€žIn anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.โ€œ

Das geschah dann durch einen Beschluss der im Mรคrz 1990 frei gewรคhlten Volkskammer der DDR im August 1990. 1992 wurde dann der Artikel 23 zum โ€žEuropa-Artikelโ€œ, mit dem die Verwirklichung eines vereinten Europas in der Verfassung festgeschrieben wurde.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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Es wird jedem Leser dieses Beitrags ebenfalls bekannt sein, daรŸ das Grundgesetz nicht fรผr alle Ewigkeit gilt, sondern mit dem AnschluรŸ der mitteldeutschen Bundeslรคnder durch eine vom deutschen Staatsvolk selbst zu schaffene Verfassung endet.

Und was diese (nichtvorhandene, unerwรผnschte?) Verfassung zur Frage eines vereinten Europas und zur Rolle Deutschlands darinnen aussagt, kann folglich nicht bekannt sein.
So verwundert es schon sehr, warum der Verfasser diese Tatsache nicht erwรคhnt und stattdessen auf einem zรคhen Stรผck Gummisohle a la Grundgesetz herumkaut.
Aber selbst das Wenige aus dem Grundgesetz wird nicht richtig verstanden, denn da steht: โ€œvon dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienenโ€
Fรผr hervorhebenswert daraus halte ich alleine zwei Wรถrter, nรคmlich โ€œgleichberechtigtโ€ und โ€œFriedenโ€, aber รผber die echoffiert sich der Herr Pfarrer in Ruhe eigenartigerweise nicht.

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