Es kommt nicht überraschend – und doch muss es jede und jeden, für den oder die Kirche mehr bedeutet als eine Institution, erschrecken: Auch 2023 verlor die Evangelische Kirche in Deutschland ca. 380.000 Mitglieder durch Austritt. Hinzu kommen die Sterbefälle (340.000 Menschen). Dem stehen 140.000 Taufen und 20.000 Kircheneintritte gegenüber. Damit gehören in Deutschland von 84.000.000 Bürger/-innen noch 18.560.000 Menschen der Evangelischen Kirche an. Ein dramatischer Rückgang!

Und wie fällt die offizielle Reaktion aus? „Wir werden eine kleinere und ärmere Kirche, dieser Tatsache müssen wir uns stellen. Auch mit weniger Mitgliedern bleibt es aber unsere Aufgabe, uns für Nächstenliebe, Menschlichkeit und die Weitergabe des christlichen Glaubens einzusetzen“, so die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs.

Und weiter: „Aus der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wissen wir, dass viele Menschen nach wie vor hohe Erwartungen an die Kirchen haben. Sie wünschen sich von uns den Einsatz für sozial benachteiligte Menschen, für Bildung und für den Zusammenhalt der Gesellschaft.“ 

Ja, das ist alles richtig, was Bischöfin Fehrs ausführt – auch wenn das „ärmer werden“ nicht das Hauptproblem darstellt. Aber was Bischöfin Fehrs sagt, ist schrecklich erwartbar. Denn wieder wird von offizieller Seite ein großer Bogen um drei Hauptprobleme gemacht:

  • Die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft. Sie bedeutet vor allem, dass viele Menschen keine Erwartungen mehr an die Kirchen als Glaubensgemeinschaft haben.
  • Die von der Institution Kirche selbst betriebene, systematische Ausdünnung der Basisorganisation der Kirche: die Gemeinde vor Ort – mit der Folge, dass Kirche in der Fläche mehr und mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet.
  • Die völlig vernachlässigte, unzureichende Nachwuchsakquise für kirchliche Berufe wie Pfarrer/-innen, Gemeindepädagog/-innen, Kirchenmusiker/-innen und der damit einhergehende Qualitätsverlust kirchlicher Arbeit.

Natürlich verfügt derzeit niemand über die richtige Strategie, wie Kirche mehr Menschen in der säkularen Gesellschaft ansprechen, motivieren, binden kann. Aber eines ist deutlich: Wenn Kirche ihre Mitglieder nicht vor Ort, direkt und durch analoge Kommunikation und personale Begegnung zu erreichen vermag, wenn sie deren Mitgliedschaft in der Kirche nicht würdigt und pflegt und sich nicht als Ort im Ort, als Christengemeinde in der Bürgergemeinde versteht, wird sich die Rasanz des Niedergangs weiter beschleunigen.

Denn nur dann, wenn Menschen spüren, dass es für sie richtig, wichtig und gewinnbringend ist, der Kirche anzugehören und das eigene Leben am christlichen Glauben auszurichten, lässt sich der Austrittstrend verlangsamen und vielleicht stoppen. Jedenfalls reicht es nicht, sich damit zu trösten, dass viele Menschen „nach wie vor hohe Erwartungen an die Kirchen haben“. 

Wenn das stimmen sollte, dann müssen wir die Erwartungen einlösen können – weniger durch Produktion von noch so sinnvollen Stellungnahmen der Institution, als vielmehr durch konkrete Begegnung, Bildung, Verkündigung und diakonisches Handeln vor Ort. Also muss das gestärkt werden, wo Menschen am ehesten spüren, was Glauben bewirkt: die Gemeinde vor Ort, ihr Leben und die Zuwendung zum einzelnen Menschen.

Dort entscheidet sich, ob Menschen der Kirche weiter angehören und in ihr aktiv sein möchten. Doch leider fällt die Ortsgemeinde, die allein Menschennähe praktizieren kann, immer mehr den unsäglichen, selbstzerstörerischen Strukturveränderungen in allen Landeskirchen zum Opfer.

Daher ist es kein Zufall, dass die Ortsgemeinde auch in der offiziellen Auswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) kaum eine Rolle spielt. Wenn es aber richtig ist, dass sich sowohl bei Kirchenmitgliedern wie bei denjenigen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, das Bild von Kirche an dem orientiert, was sie vor Ort an kirchlicher Präsenz vorfinden (oder auch nicht vorfinden), dann muss die Ortspräsenz der Kirche gestärkt werden.

Andernfalls steht für viele Menschen die Frage im Raum: Warum soll ich noch einer Institution angehören, die für den Einzelnen im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr erreichbar ist?

Von daher gesehen muss Kirche endlich eine Strategie entwickeln, wie sie, auch im kleinsten dörflichen Bereich, personale Präsenz und Menschennähe entwickeln kann, die dem biblischen Menschenbild und der Hoffnungsbotschaft Jesu entsprechen. Darum plädiere ich für drei Ausgangsfragen aller notwendigen Veränderungen und Erneuerungen:

  • Warum soll es Kirche am Ort X geben?
  • Dient das, was wir als Kirche vorhaben, der Menschennähe?
  • Wie kommen wir zum nötigen, qualifizierten Personal für unsere Arbeit?

Mit Geld haben diese Fragen zunächst nichts zu tun. Auch orientieren sie sich nicht mehr an einem bürokratisch-behördlich organisierten Kirchenwesen, das (jedenfalls in Sachsen) immer noch mit einer archaisch anmutenden Arroganz auftritt, per Verordnung vorgeben zu können, was für Kirchgemeinden gut ist. Vielmehr wollen die Fragen die Entwicklung zukunftsweisender Perspektiven auslösen – und zwar bei denen, die christliche Gemeinde vor Ort gestalten.

Nachtrag 1:
Zur Thematik verweise ich auch auf meinen Vortrag„Kirche in der säkularen Gesellschaft – Endphase oder neuer Aufbruch. Eine kritische Auswertung der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“

Nachtrag 2:
Natürlich hat die Erosion der christlichen Kirchen erhebliche gesellschaftspolitische Auswirkungen – und zwar unabhängig von der eigenen Versagensgeschichte im Blick auf den sexuellen Missbrauchsskandal und seiner jahrzehntelangen Vertuschung. Vieles von dem, was derzeit beklagt wird (Verrohung des politischen Diskurses, niedrige Hemmschwelle zur Gewalt, mangelnde Resilienz, zunehmende Vereinsamung und Verbitterung, eine soziale Bezüge ausklammernde Ichbezogenheit) ist unter anderem auch Folge eines Verlustes bzw. Nichtvorhandenseins eines getrösteten Gottvertrauens und der Kategorie der Dankbarkeit.

Auch darüber müssen als Kirche offen sprechen – nicht anklagend, nicht auftrumpfend, aber mit unseren inhaltlichen Pfunden wuchernd und den Menschen zugewandt.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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