Heute, am 23. Mai 2024, ist ein doppelter Festtag: Vor 161 Jahren wurde am 23. Mai 1863 in Leipzig mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) die moderne Sozialdemokratie als politische Kraft der Arbeiterbewegung ins Leben gerufen. Dieser Tag gilt als Geburtstag der SPD. Im Jahr 1949 trat am 23. Mai das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft.
Von Anfang an war das Grundgesetz als gemeinsame Verfassung für West- und Ostdeutschland konzipiert und konnte darum 1990 zur gesamtdeutschen Verfassung werden. Voraussetzung dafür war aber, dass die im März 1990 frei gewählte Volkskammer der DDR der Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes zustimmte.
Dass der 23. Mai den Geburtstag der SPD und des Grundgesetzes zusammenfallen lässt, ist weit mehr als ein historischer Zufall. Denn die SPD ist nicht nur die älteste Partei Deutschlands. Sie ist auch die Partei, die von ihren Grundsätzen, einer demokratischen Gesellschaft und dem Frieden zu dienen, zu keinem Zeitpunkt abgewichen ist. Vor allem aber ist das Grundgesetz nicht denkbar ohne den herausragenden Beitrag von Sozialdemokrat/-innen in der Parlamentarischen Versammlung.
Hier sind vor allem Elisabeth Selbert und Carlo Schmid zu nennen. Letzterem ist die Präambel mit der Absage an jeden Nationalismus durch die Verankerung Deutschlands in das vereinte Europa zu verdanken. Elisabeth Selbert hat nicht lockergelassen, bis in Artikel 3 Absatz 2 die Gleichberechtigung von Mann und Frau festgeschrieben worden ist.
Die SPD kann mit Fug und Recht und ohne jeden Anflug von Überheblichkeit für sich in Anspruch nehmen: Ohne den aufrechten Gang der SPD und die Standfestigkeit vieler Sozialdemokrat/-innen in der Zeit des verbrecherischen Nationalsozialismus, ohne die Entschlossenheit der SPD zu einem „Nie wieder!“ nach 1945 und ohne die Verbindung von demokratischen Überzeugungen, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit sind die Grundrechtsartikel im Grundgesetz nicht denkbar.
Daran zu erinnern, tut Not. Denn heute verlieren sich leider viele Grundrechte im Nebel des Selbstverständlichen. Das ist das Einfallstor für die politischen Kräfte, die diese Grundrechte als hinderlich für ihren Machtanspruch ansehen. Das Spiel mit dem Feuer scheint für zu viele Bürger/-innen eine Option zu sein, um ihre Unzufriedenheit mit Entwicklungen in unserer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen.
Doch soll sich niemand täuschen: Wer jetzt einer AfD oder anderen rechtsextremistischen Gruppierungen meint die Stimme geben zu müssen, muss wissen: Er trägt dazu bei, dass all das, was unsere Gesellschaft trotz aller Interessenskonflikte im demokratischen und friedlichen Zusammenleben geschaffen hat, für das Linsengericht eines im Kern kriegstreibenden Nationalismus verspielt wird. Das Ergebnis einer solchen Politik ist ein zerstörtes Deutschland und Europa. Das dürfen wir niemals zulassen.
Darum ist es jetzt so wichtig, die AfD als rechtsextremistische Partei, die bewusst an den Nationalsozialismus anknüpfen und damit die Grundwerte der Verfassung aushöhlen will, zu entlarven.
Wenn der Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, die 12-jährige Terrorherrschaft des Nationalsozialismus als „Vogelschiss der Geschichte“ verharmlost, der Thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke vom Berliner Holocaust Denkmal als „Mahnmal der Schande“, der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl Maximilian Krah die SS mit der Bemerkung reinwaschen will, dass nicht alle ihrer Mitglieder Verbrecher waren, und die AfD den „Schuldkult“ anprangert, um die Verbrechen des Nationalsozialismus vergessen zu machen, dann handelt es sich dabei nicht um Ausrutscher, sondern um ganz gezielte ideologische Manöver.
Deswegen ist auch der gestrige Versuch der AfD-Führung, sich ihres Spitzenkandidaten Maximilian Krah zu entledigen, ein leicht durchschaubares Spielchen. Wenn die AfD-Führung tatsächlich etwas bereinigen wollte, dann müsste sie die Selbstauflösung der Partei betreiben. Denn die Krahs und Höckes sprechen das aus, was die Weidels und Chrupallas im Sinn haben. So wie Krah denkt und spricht die erdrückende Mehrheit aller Kandidat/-innen der AfD auf ihrer Europawahlliste.
Dass das wahre Gesicht der AfD im Umfeld des doppelten Geburtstages am 23. Mai 2024 so deutlich zutage tritt, trägt bei allem höchst Beunruhigendem doch den Keim des Guten in sich: Die Zeit der Verharmlosung ist ebenso vorbei wie der Verlass auf Selbstverständlichkeiten. Wir müssen für die Demokratie streiten.
Die Bereitschaft dazu sollte unser Geburtstagsgeschenk an die SPD und das Grundgesetz sein.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
Hinweis des Autors: Wie in jedem Jahr gestaltet der Arbeitskreis „Christen in der SPD“ im Umfeld des 23. Mai (1863 Gründungstag der Sozialdemokratie, 1949 Verabschiedung des Grundgesetzes) das Friedensgebet in der Nikolaikirche. In diesem wirken mit: die Jüdisch-christliche Arbeitsgemeinschaft aus Anlass des Besuchs der Angehörigen ehemaliger jüdischer Bürger/-innen Leipzigs, Pfarrer i.R. Christian Wolff und Johannes Kroppe. Zu diesem Termin am Montag, dem 27. Mai um 17 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig sind alle Interessierten herzlich eingeladen.
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