Wie seit รผber 50 Jahren versuche ich auch in diesen Tagen zu verstehen, was sich derzeit im Nahen Osten und im arabischen Raum ereignet. Immer wieder komme ich zu dem gleichen Ergebnis: Zwar wird seit dem Ende des Jom-Kippur-Krieges 1973 mit jeder weiteren bewaffneten Auseinandersetzung erneut und auf grausame Weise unter Beweis gestellt, dass mit Krieg keine Befriedung einer Region zu erreichen ist.
Dennoch wurde und wird von den Regionalmรคchten im Nahen Osten, von den Weltmรคchten USA, Russland und Europa wie von der sogenannten Internationalen Gemeinschaft fast ausschlieรlich auf militรคrische Interventionen ohne jede friedenspolitische Zielsetzung gesetzt. Insofern ist es kein tragischer Zufall, sondern konsequente Folge von einer allein-militรคrischen Option politischen Handelns, dass bis heute jede friedenspolitische Initiative im Keim erstickt wurde oder versandete.
Sowohl der Erste als auch der Zweite Golfkrieg (1991 und 2003) haben in katastrophaler Weise gezeigt, dass sie nichts anderes hinterlassen haben als: verbrannte Erde. Beide Kriege haben den internationalen Terrorismus aufleben lassen (IS, Hamas, Hisbollah), die Existenz des Staates Israel in keiner Weise gesichert und damit das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich Kriegsziel war: Terrorherrschaften ein Ende zu bereiten.
Besonders dramatisch: Der 20-jรคhrige Afghanistankrieg endete damit, dass die Terrororganisation, die man eigentlich entmachten wollte, 2021 die Herrschaft in Afghanistan wieder รผbernommen hat.
Die Ausweglosigkeit und das Misstrauen, die viele Bรผrger/-innen angesichts dieses Desasters internationaler Politik verspรผren, ist absolut nachvollziehbar. Denn auch jetzt vermag kaum jemand zu erkennen, dass in der allein-militรคrischen Option eine friedenspolitische Perspektive fรผr die Vรถlker im Nahen Osten liegen soll. Auch ist nur noch schwer vermittelbar, wenn sich internationale Politik weitgehend beschrรคnkt auf Geldzuwendungen, um Kriegsschรคden zu beseitigen, die im nรคchsten Waffengang wieder zerstรถrt werden, und auf Waffenlieferungen, die Letzterem dienen โ ein absurder Prozess, der sich in den vergangenen Jahrzehnten im Gaza abgespielt hat.
Offensichtlich bleibt vรถllig unberรผcksichtigt, dass die Bevรถlkerungen im Nahen Osten genauso wie in jeder anderen Region auf diesem Erdball nur dann eine Mรถglichkeit haben, sich zu entwickeln, wenn sie ihr Lebensrecht gegenseitig anerkennen. Wenn internationale Politik eine Aufgabe hat, dann ist es die: einen solchen Prozess in einer Region wie dem Nahen Osten zu befรถrdern.
Genau daran mangelt es aber seit Jahrzehnten. Bis heute hat es keine erkennbare Initiative gegeben, eine Konferenz fรผr Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (KSZNO) zu etablieren โ mit einer auf Jahrzehnte angelegten Perspektive allmรคhlicher Befriedung. Stattdessen pflegen alle Regionalmรคchte im Nahen Osten ihre Feindbilder und schwรถren ihre Bevรถlkerungen darauf ein โ mit der Folge einer irrwitzigen Verwรผstung von Menschen, Mรคchten, Regionen.
Jitzchak Rabin, der am 04. November 1995 ermordete Ministerprรคsident Israels, richtete am 13. September 1993 im Rosengarten des Weiรen Hauses in Washington folgende Worte an den Palรคstinenserfรผhrer Yassir Arafat: โWir, die wir euch Palรคstinenser bekรคmpft haben, sagen euch heute mit lauter und klarer Stimme: Genug des Blutes und der Trรคnen! Genug. (โฆ) Wir sind wie Sie Menschen, die ein Zuhause bauen wollen, die einen Baum pflanzen, lieben, Seite an Seite miteinander leben wollen โ in Wรผrde, mit Verstรคndnis fรผreinander, als freie Menschen. Wir geben heute dem Frieden eine Chance und sagen: Es ist genug! Lassen Sie uns beten, dass der Tag kommt, an dem wir alle den Waffen Lebewohl sagen.โ
Wenn heute jemand diese Worte in den รถffentlichen Diskurs einbringen wรผrde, er wรผrde sofort der Blauรคugigkeit, Traumtรคnzerei und politischen Naivitรคt bezichtigt. Doch ohne Menschen, die dem folgen, was unser humaner, dem Schรถpfer alles Lebens, dem Ewigen, gemรครer Auftrag ist, nรคmlich in Frieden uns gegenseitig zu achten und zu respektieren, so schwer das im Einzelfall auch fallen mag, wird es keine Befriedung geben. Genau dies haben wir in Europa nach 1945 Gott sei Dank erlebt.
Der Schlรผssel fรผr den Frieden im Nahen Osten liegt also weder in Washington noch in Moskau, Peking, Tel Aviv oder Berlin (dort sind derzeit nur die Schlรถsser griffbereit). Der Schlรผssel liegt โ entgegen Schillers Diktum aus โWilhelm Tellโ * โ allein in der Einsicht, dass es gerade fรผr den โFrรถmmstenโ die vornehmste Aufgabe ist, mit dem โbรถsen Nachbarnโ zu Vereinbarungen zu kommen, die seine Bรถsartigkeit verkรผmmern lรคsst.
Dann, aber nur dann wird auch auf verbrannter Erde wieder neues Leben wachsen kรถnnen. Es ist hรถchste Zeit, dass man von diesem Impetus in den ansonsten krankhaft-floskelhaften Statements der in Regierungsverantwortung stehenden Politiker/-innen wenigstens ansatzweise etwas vernehmen kann.
* Es kann der Frรถmmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bรถsen Nachbarn nicht gefรคllt. (Friedrich Schiller, Wilhelm Tell)
Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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