Gastkommentar von Christian Wolff: Stimmungswandel

Christian Wolff hรคlt eine Rede.
Unser Gastkommentator Christian Wolff auf der Demo โ€žZusammen gegen rechtsโ€œ am 21. Januar 2024 in Leipzig. Foto: Gregor Wรผnsch

Noch vor wenigen Wochen schien es fรผr viele ausgemacht: Die AfD wird bei den anstehenden Kommunal- und Europawahlen am 9. Juni 2024 und dann vor allem bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thรผringen und Brandenburg am 1. September 2024 triumphale Wahlergebnisse einfahren. In Sachsen schien nicht einmal eine absolute Mehrheit fรผr die AfD bei den Landtagswahlen auรŸer Reichweite.

Die Bauern-Proteste, denen sich vielerorts Speditionsunternehmer und Handwerker anschlossen, mit offener Flanke zur AfD, sowie das trรผbe Erscheinungsbild der Ampel-Koalition befรถrderten eine Stimmungslage, als stehe Deutschland kurz vor dem Abgrund und das demokratische System vor dem Zusammenbruch. Ich gebe zu: Zum Jahresbeginn hat auch mich ein Gefรผhl der Ohnmacht beschlichen, als mรผsse man sich zumindest in Ostdeutschland auf rechtsextreme AfD-Minister einstellen.

Doch inzwischen vollzieht sich ein erstaunlicher Stimmungswandel. Bundesweit sind Bรผrgerinnen und Bรผrger aufgewacht โ€“ nicht aufgrund eines medial gepushten Katastrophenszenarios, gespeist von Wut und Empรถrung. Vielmehr wirkten die Recherchen von Correctiv รผber die faschistischen Gedankenspiele rechtsextremistischer Netzwerke wie ein Weckruf, wie das schrille Heulen einer Sirene.

Vielen Bรผrger/-innen fiel es wie Schuppen von den Augen: Unser Grundproblem ist nicht das manchmal kryptische Agieren der Bundesregierung, sind nicht die vielen ungelรถsten Herausforderungen im Blick auf den Klimawandel, ist nicht der marode Zustand der Deutschen Bahn, sind nicht Streiks und Protestaktionen gesellschaftlicher Gruppen. Als Hauptproblem erweist sich, dass rechtsextremistische Zirkel seit Jahrzehnten systematisch an der Zerstรถrung der freiheitlichen Demokratie arbeiten.

Gleichzeitig sind zu viele Bรผrger/-innen bereit, diesem Treiben auch noch durch Stimmabgabe fรผr die AfD einen Schub zu verleihen โ€“ immer mit der Attitรผde versehen: sie, die AfD, wรผrde den Willen des Volkes, den Willen der schweigenden Mehrheit verkรถrpern. Hinzu kommt die seit Jahren wirksame Neigung, die Gefahr des Rechtsextremismus zu verharmlosen.

Doch nun erkennen immer mehr Menschen: Nichts wird dadurch besser, dass wir die Demokratie, die Menschenrechte, die kulturelle Vielfalt, die Offenheit zur Disposition stellen. Nichts wird dadurch besser, dass wir den Hรถckes und Weidels noch mehr Einfluss geben. Darum muss Schluss sein mit der Verharmlosung der Gefahr, die vom organisierten Rechtsextremismus, von der AfD ausgeht.

Darum sollte auch eine mรถgliche AfD-Mehrheit bei den anstehenden Wahlen nicht lรคnger herbeigeredet werden. Darum dรผrfen wir, die Bรผrger/-innen Deutschlands, uns nicht lรคnger darauf verlassen, dass sich das Problem des Rechtsextremismus von selbst erledigt โ€“ spรคtestens dann, wenn die gewรคhlten Politiker/-innen ihre Hausaufgaben richtig erledigen. Nein, in der Demokratie kommt es auf jede einzelne Bรผrgerin, jeden Bรผrger und auf seinen/ihren Mitgestaltungswillen an.

Nicht in dem Sinn, dass mit Mistgabeln aufgerรคumt wird, wie es schon die Pegida-Protagonistin Tatjana Festerling forderte, und das โ€žVolkโ€œ die Macht ergreift (โ€žWenn die Mehrheit der Bรผrger noch klar bei Verstand wรคre, dann wรผrden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehรคusern prรผgeln.โ€œ)

Das ist nur die Umschreibung gewalttรคtiger Zerstรถrung demokratischer Prozesse. Vielmehr kommt es jetzt darauf an, dass jeder Bรผrger, jede Bรผrgerin seine/ihre Verantwortung fรผr den Erhalt der parlamentarischen Demokratie, der kulturellen Vielfalt, der Meinungs-, Religions- und Pressefreiheit sieht und einsetzt.

So meldet sich der Bรผrger, die Bรผrgerin landauf, landab seit vier Wochen zurรผck, verlรคsst die Zone erlahmten Engagements aus der Corona-Zeit und bringt zum Ausdruck:

  • Die Demokratie, das sind wir, die Bรผrger/-innen, in aller Unterschiedlichkeit unserer jeweiligen Herkunft, weltanschaulichen รœberzeugung, politischer Ausrichtung.
  • Wer die Demokratie angreift, der hat nicht einen Olaf Scholz oder Friedrich Merz zum Gegner, sondern mich, den Bรผrger, die Bรผrgerin.

Die Demonstrationen und Kundgebungen der letzten Wochen unterstreichen eindrucksvoll: Jeder und jede einzelne nimmt seine/ihre Verantwortung wahr und spricht vor allem den Rechtsnationalisten ab, was sie behaupten: Sie seien das Volk, sie wรผrden den Willen der Mehrheit verwirklichen und den Stall ausmisten, fรผr Ordnung sorgen. Nein โ€“ sie sind eine Gefahr fรผr unser Gemeinwesen. Sie treten all die Werte, die die Mรผtter und Vรคter des Grundgesetzes in der Verfassung verankert haben, mit FรผรŸen.

Jetzt kommt es darauf an, dass Politik sich nicht an der AfD orientiert und ihre Narrative bedient. Politik muss sich an der demokratischen Wachheit der Bรผrger/-innen ausrichten. Politik kann sich, das zeigen die Massendemonstrationen, auf das Demokratiebewusstsein der Bรผrger/-innen verlassen. Sie bejahen gesellschaftliche Vielfalt, das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, den offenen Diskurs. Das allerdings nimmt die Demonstrant/-innen in die Pflicht.

Es kommt jetzt nicht darauf an, die eigenen politischen Vorstellungen zum MaรŸstab aller Dinge zu machen. Den Rechtsextremismus bekรคmpft man nicht, indem man seine politischen Richtigkeiten wie ein Schutzschild vor sich hertrรคgt. Vielmehr ist ein wichtiges Instrument in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus die demokratische Vielfalt. Darum ist es entscheidend, dass auf den Demonstrationen und Kundgebungen die zivilgesellschaftliche Vielfalt sicht- und hรถrbar wird.

Wir sollten uns bewusst machen: Es ist das eine, denen zu danken, die in den vergangenen Jahrzehnten wach und unerschrocken dem Rechtsextremismus die Stirn geboten haben und dabei oft genug allein gelassen wurden. Das andere ist aber genauso wichtig: die Menschen zu ermutigen, die bis jetzt abseitsstanden, sich frustriert zurรผckgezogen haben, gar nicht mehr zu Wahl gegangen sind oder sogar mit dem Gedanken gespielt haben, AfD zu wรคhlen, jetzt aber merken, dass ihr Engagement fรผr die Demokratie vonnรถten ist.

Und: Es gilt die nicht wieder zu verschrecken, die im lรคndlichen Raum endlich die innere Emigration beenden und sich den Rechtsextremisten in den Weg stellen. Nicht wenige von ihnen machen den Unterschied aus, zwischen 10.000 oder 70.000 auf den StraรŸen Leipzigs und zwischen 18 oder 35 Prozent fรผr die AfD. Sorgen wir also dafรผr, dass der Stimmungswandel anhรคlt und alle Erwartungen und Befรผrchtungen zu Beginn des Jahres Lรผgen straft.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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