Es ist schon auffรคllig. Sahra Wagenknecht โ einst das Gesicht der Sammlungsbewegung โAufstehenโ (gegrรผndet 2018 โ aufgelรถst 2019) โ bleibt lieber zu Hause sitzen, wenn in diesen Wochen Zehntausende Bรผrger/-innen auf die Straรe gehen, um fรผr Demokratie und Menschenrechte und gegen die vรถlkisch-nationalistische AfD zu demonstrieren. Sie kรถnne keine Schwรคchung der AfD erkennen, die von den Demonstrationen ausgeht. Das Erstarken der AfD gehe allein auf das Konto der Bundesregierung.
Wagenknecht setzt lieber auf die nach ihr selbst benannte neue Partei โBรผndnis Sahra Wagenknecht (BSW) โ Vernunft und Gerechtigkeitโ und unterlรคsst bewusst eine kritische Auseinandersetzung mit der AfD bzw. ein solidarisches Eintreten fรผr die Demokratie. Stattdessen bedient sie โ wie allzu viele aus dem konservativen gesellschaftlichen Lager โ etliche Narrative der AfD, wohl in der Hoffnung, bei den anstehenden Wahlen der AfD Stimmen wegnehmen zu kรถnnen, und beteiligt sich an der Verharmlosung der Rechtsnationalisten.
รhnlich wie Sahra Wagenknecht und diejenigen, die sie um sich geschart hat, blicken konservative Publizisten auf die erfreulich anhaltenden Massendemonstrationen fรผr die Wahrung demokratischer Freiheiten und kultureller Vielfalt in allen Regionen Deutschlands. Sie sehen in den Demonstrationen eine Neuauflage der in ihren Augen gescheiterten โWillkommenskulturโ vor neun Jahren, mit der sich die Deutschen an ihrer โmoralischen รberlegenheitโ selbst โberauschtenโ โ so der Chefredakteur der Neuen Zรผrcher Zeitung (NZZ), Eric Gujer, am 02.02.2024 in einem Kommentar unter der รberschrift โManchmal kรถnnen die Deutschen einem wirklich Angst einjagenโ.
Fรผr ihn ist die Angst vor dem Rechtsextremismus รผbertrieben: โDie Furcht, die AfD werde die Demokratie aus den Angeln heben, ist abwegig โฆ Berlin ist nicht Weimar.โ Natรผrlich ist Berlin nicht Weimar, und vielleicht sind manche Vergleiche zu den Ereignissen vor 100-90 Jahren รผbertrieben. Nur: Alles, was in Sachen Rechtsextremismus derzeit vor allem in Ostdeutschland geschieht, macht fรผr mich das, was zwischen 1923 und 1933 in Deutschland geschehen ist, nachvollziehbar.
Allein das reicht, um hรถchst beunruhigt zu sein รผber das Auftreten der AfD. Einmal ganz abgesehen davon, dass in mancher sรคchsischen Kleinstadt der Rechtsextremismus als solcher gar nicht mehr auffรคllt, weil er zum Alltag dazugehรถrt โ und das hat nichts mit der Ampelkoalition, sondern mit einer jahrzehntelangen Verharmlosung und Verdrรคngung des alltรคglichen Faschismus zu tun.
Insofern ist es eine bittere Groteske, wenn der Berlin-Korrespondent der NZZ, Felix Serrao, unter der รberschrift โDie deutsche Panik macht die AfD erst grossโ schreibt: โWer die AfD wieder kleinkriegen will, muss sie mitregieren lassen. Je frรผher, desto besser โฆโ (NZZ vom 13.02.2024). Nein, einer solch fatalen Fehleinschรคtzung sind die Deutschen schon einmal erlegen โ genau vor 91 Jahren.
Die jetzt spรผrbare, anhaltende Beunruhigung vieler Bรผrger/-innen ist hรถchst erfreulich. Denn die Menschen machen dadurch klar: Wir erkennen, was wir dem demokratischen System verdanken und was uns blรผht, wenn eine AfD politisch das Sagen bekommt. Das hat nichts mit Angst oder Panik, sondern vor allem mit politischer Wachheit zu tun. Ausgelรถst wurde diese durch die Verรถffentlichung des Recherchenetzwerk โCORRECTIVโ รผber das Geheimtreffen von Rechtsextremisten, darunter etliche AfD-Politiker.
Auf dieser wurde ein Masterplan fรผr die Remigration vorgestellt. Diese Wannseekonferenz 2.0 hat vielen Menschen die Augen geรถffnet, was die AfD tatsรคchlich bedeutet: die Zerstรถrung all dessen, worauf unser demokratisches Zusammenleben und der gesellschaftliche Frieden beruht. Doch fast noch wichtiger ist, dass viele derer, die demonstrieren, nun deutlicher unterscheiden zwischen notwendiger Kritik an gegenwรคrtigem Regierungshandeln, an Parteien und Politiker/-innen, zwischen dem demokratisch herbeigefรผhrten Wechsel von Mehrheiten auf der einen und dem sog. Systemwechsel, dem Gerede von den โAlt-Parteienโ und der Verachtung der parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite.
Letzteres ist das Geschรคft der AfD und anderer rechtsextremistischer Gruppen. Darum ist es von grรถรter Bedeutung, dass jetzt sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, Verbรคnde, Vereine, Parteien, sich in dem einen Ziel einig sind: Niemals dรผrfen AfD oder andere Rechtsextreme in Deutschland an die Schalthebel der Politik gelangen! Auรerhalb dieses Ziels mรผssen natรผrlich die politischen Auseinandersetzungen und der Kampf um Mehrheiten im kontroversen, demokratischen Diskurs weiter gefรผhrt werden.
Man muss sich nur vor Augen fรผhren, was sich im Kultur- und Bildungsbereich und damit im gesamten gesellschaftlichen Leben รคndern wรผrde, wenn die AfD das Sagen bekรคme. In einem Antrag โDeutsche Identitรคt verteidigen โ Kulturpolitik grundsรคtzlich neu ausrichtenโ formulierte die AfD-Bundestagsfraktion im Januar 2023 unmissverstรคndlich: โKulturelle Identitรคt, verstanden als geistige Heimat, entsteht dann, wenn sich eine Gemeinschaft von Menschen durch Sprache, Herkunft, Traditionen, Kultur und Religion, aber auch durch landesspezifische Gepflogenheiten und Werte โ wie z.B. Ehrlichkeit, Verlรคsslichkeit oder Fleiร โ miteinander verbunden fรผhlt.โ
Daraus leitet die AfD die Forderung ab, โdie aktuelle Reduktion kultureller Identitรคt auf eine Schuld- und Schamkultur, die die Regierungspolitik und weite Teile der รถffentlichen Meinung dominiert, durch positive Bezugspunkte kultureller Identitรคt zu korrigieren, um die aktive Aneignung kultureller Traditionen und identitรคtsstiftender Werte wieder in den Vordergrund zu rรผckenโ.
Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein homogenes Volksverstรคndnis, das anknรผpft an die vรถlkische Ideologie der Nationalsozialisten, kulturelle Vielfalt negiert und den Boden fรผr Fremdenhass und Ausgrenzung bereitet. Allein dieses Ansinnen der AfD muss in den kommenden Wochen jeden Bรผrger und jede Bรผrgerin dazu anhalten, sich verstรคrkt fรผr die demokratischen Grundrechte, die Grundwerte der Verfassung und damit fรผr europรคische Einigung zu engagieren. Zur Beruhigung besteht kein Anlass.
Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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