Was die politische Stimmungslage aktuell auch speziell in Sachsen anbelangt, verfestigt sich das Gefühl, dass nur noch jeder gegen jeden kämpft und das Gemeinwohl kaum noch Unterstützer hat. Das deutete sich schon früher an. Der Aufstieg der von Egoismus und Rücksichtslosigkeit getriebenen AfD ist ja nicht neu. 2022 fragte die Stadt deshalb in der Bürgerumfrage die Leipzigerinnen und Leipziger auch, wie sie eigentlich zum Gemeinwohl stehen.
Dem Beitrag in der Auswertung der Bürgerumfrage haben die Statistiker/-innen der Stadt einen ganzen Abschnitt vorangestellt, in dem sie die Sache mit dem Gemeinwohl erst einmal erklären:
„Unter Gemeinwohl wird das Wohlergehen oder das Gesamtinteresse aller Menschen innerhalb einer Gemeinschaft verstanden (Schubert & Klein, 2020) oder einfacher gesagt: ‚Gemeinwohl ist, was uns alle angeht.‘ (HHL Leipzig Graduate School of Management, 2020). Handlungen von Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen, die für alle oder breite Gesellschaftsgruppen förderlich sind, können dem Gemeinwohl dienen, sobald sie von den Individuen der Gemeinschaft positiv wahrgenommen werden (HHL Leipzig Graduate School of Management, 2020).
Gemeinwohl ist damit eine wichtige Ressource des gesellschaftlichen Zusammenhalts und eine kollektive ‚Idee von dem, was allen gemeinsam sein soll und wodurch sich eine Gesellschaft in ihrem Wesen auszeichnet‘ (HHL Leipzig Graduate School of Management, 2020). Etwas zum Gemeinwohl beizutragen, ist auf individueller Ebene als besonders wichtige, altruistische Handlungsmotivation ehrenamtlich Tätiger bekannt (Simonson & Kelle, 2021, S. 119f).“
Und dann ging es ans Eingemachte: Sind die Leipzigerinnen und Leipziger gemeinwohlorientiert? Oder sind es lauter Egoisten, die – ganz im Sinne einiger heutiger Parteien – nur noch an sich selbst, ihr Vorankommen und ihren Vorteil denken?
Ist noch Raum für Selbstwirksamkeit?
„Dreiviertel der Leipzigerinnen und Leipziger sind der Meinung, durch ihr Verhalten einen Beitrag leisten zu können“, heißt es nun im Bericht zur Bürgerumfrage. „Der gleichen Aussage stimmten 2019 in der Gemeinwohlatlas-Studie 92 Prozent zu, wobei 53 Prozent die höchste Zustimmungskategorie wählten. Die Überzeugung von der eigenen Selbstwirksamkeit fiele im Vergleich dazu demnach in Leipzig zwar hoch, jedoch etwas geringer als im Bundesdurchschnitt aus.“
Positiv erscheint auch dieses Ergebnis: „51 Prozent stimmen auch voll oder eher der Aussage zu, bereit zu sein, sich ehrenamtlich für das Gemeinwohl zu engagieren. Damit sind mit der speziellen Begründung der Gemeinwohlorientierung im Fokus noch mehr Leipzigerinnen und Leipziger zu einem Ehrenamt bereit, als aktive Ehrenämtler/-innen und Ehrenamtspotenzial zusammen ausmachen (44 Prozent).“
Was schon eine Einengung gegenüber den Ergebnissen aus dem Gemeinwohlatlas darstellt. Denn dort ging man selbstverständlich davon aus, dass man nicht nur im Ehrenamt etwas fürs Gemeinwohl tun kann.
„83 von 100 Befragten waren der Meinung, dass privatwirtschaftliche Unternehmen eine hohe Verantwortung haben, zum Gemeinwohl beizutragen. Eine noch höhere Verantwortung zum Gemeinwohl beizutragen wurde der öffentlichen Verwaltung (94 %), gemeinnützigen Organisationen (90 %), der Politik (90 %) und auch jedem Einzelnen (89 %) zugeschrieben“, heißt es da speziell zu den Leipziger Ergebnissen.
Man kann das Gemeinwohl eben nicht nur an gemeinnützige Organisationen delegieren.
Es geht nicht nur ums Ehrenamt
„79 von 100 Befragten sind der Meinung, dass Organisationen bestraft werden sollen, wenn sie dem Gemeinwohl schaden“, meinten die Leipziger 2020.
Dabei bekamen deutschlandweit insbesondere Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und Deutsches Rotes Kreuz die höchsten Noten. Am Ende der Liste mit den abgefragten 135 Organisationen landeten „Bild“, die FIFA und Marlboro. Mit den Plätzen 129 und 130 wurden Twitter und Facebook auch damals schon unter die Organisationen eingereiht, die dem Gemeinwohl eher schaden.
Was natürlich auch die politische Dimension des Gemeinwohls ins Spiel bringt: Wer den gesellschaftlichen Frieden aus purem Profitinteresse (zer-)stört, schadet ganz eindeutig dem Gemeinwohl.
Und die Macht dieser asozialen Medien hat natürlich Folgen, wenn sie die Gesellschaft zersplittert und die Menschen immer aggressiver werden lässt. Das lässt die Sorgen um den Zusammenhalt der Gesellschaft zwangsläufig wachsen.
„Deutlich mehr als die Hälfte (56 Prozent) der Befragten stimmt auch der Besorgnis zu, dass dem Gemeinwohl in Leipzig zu wenig Beachtung geschenkt wird“, heißt es in der Auswertung der Bürgerumfrage. „Im Rahmen der Befragung für den Gemeinwohlatlas 2020 gaben vergleichbare 59 Prozent der Leipziger Befragten an, diese Befürchtung in Bezug auf ihre Stadt zu teilen. Im Bundesgebiet waren mit 81 Prozent deutlich mehr Personen um den Stand des Gemeinwohls in der Gesellschaft in ganz Deutschland besorgt (HHL Leipzig Graduate School of Management, 2020).“
Wer will sich wirklich engagieren?
Aber Besorgnis dürfte auch machen, dass 45 Prozent der Befragten sich keine oder kaum Sorgen machen darum, dass dem Gemeinwohl zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die Gründe für diese Haltung wurden nicht abgefragt. Aber in der Gruppe stecken ganz bestimmt auch viele Leute, die ihre eigenen Vorteile über die der Gesellschaft setzen. Anders ist auch die Rücksichtslosigkeit in vielen Bereichen unserer Gesellschaft, wo sich Einzelne ihr Recht auf Kosten der Gemeinschaft nehmen, nicht zu erklären.
Und das ist ganz offensichtlich auch ein Generationenproblem, wie der Bericht zur Bürgerumfrage andeutet: „In Bezug auf die Aussage ‚Ich arbeite lieber in einer Organisation, die das Gemeinwohl hochhält, auch wenn ich weniger verdienen würde‘ lässt sich eine idealistische Gruppe umreißen: Jüngere Personen zwischen 18 und 34 Jahren (54 Prozent wählen die Zustimmungskategorien, ohne Anteil keine Angabe) stimmen im Altersvergleich eher zu.
Ganz besonders hoch liegt der Wert unter den Studierenden (76 Prozent Zustimmung, ohne Anteil keine Angabe). Während in der KBU insgesamt 48 Prozent der Aussage (eher) zustimmen, maß die Befragung für den Gemeinwohlatlas 2020 unter Leipziger/-innen 62 Prozent Zustimmung.“
Wobei der Gemeinwohlatlas auch die Dimension Moral abfragte. Denn wer nach dem Gemeinwohl fragt, legt einen moralischen Maßstab an. Der auch für Medien, Unternehmen und Ämter gilt. Was aber nicht detailliert untersucht werden kann, weil Leipziger Organisationen im Gemeinwohlatlas 2020 viel zu wenige Bewertungen bekommen haben, um aussagekräftige Feststellungen machen zu können.
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