Es wird viel geredet über Ehrenamt in unserer Gesellschaft. Aber fast immer wird dabei vergessen, dass man sich Ehrenamt auch leisten können muss. Denn dazu braucht man frei verfügbare Ressourcen, die viele Leipzigerinnen und Leipziger gar nicht haben. Den einen fehlt schlicht die Zeit, den anderen das Geld. Was übrigens auch politische Folgen hat. Denn Menschen, denen die Ressourcen für ehrenamtliche Arbeit fehlen, tauchen auch nicht in der Lokalpolitik auf.
Die entsprechende Frage in der Bürgerumfrage geht also weit über das hinaus, was man für gewöhnlich unter Ehrenamt versteht – die Mitarbeit in Sportvereinen, in sozialen Initiativen, in Elternbeiräten oder Bürgervereinen. Es betrifft eben auch sämtliche politische Organe der Stadt wie Ortschaftsräte, Stadtbezirksbeiräte und den Stadtrat selbst – aber auch die Mitarbeit in Parteien.
Auch die Arbeit als Stadtrat gilt als Ehrenamt. Aber gerade Menschen mit Ressourcenknappheit tauchen hier nicht auf oder geben schnell auf – zumeist aus familiären Gründen.
Im Bericht zur Bürgerumfrage 2022 heißt es dazu: „Der Zugang zum Ehrenamt ist in der Gesellschaft also nicht gleich – sonst wären theoretisch alle Gruppen unter den Aktiven gleichmäßig vertreten – sondern von bestimmten Faktoren abhängig. Neben der Bildung beeinflusst auch die finanzielle Situation die Häufigkeit ehrenamtlichen Engagements: Unterhalb des städtischen Einkommensmedians, in der einkommensarmen Gruppe und der unteren Mittelschicht, ist der Anteil der Ehrenämtler/-innen im Vergleich deutlich kleiner als in der wohlhabenderen oberen Mittelschicht und der einkommensreichen Gruppe.“
Die Zeit muss man erst mal haben
Und weiter heißt es dort: „Die Beobachtung wird noch verstärkt, wenn die sehr häufig engagierten Studierenden ausgeklammert werden, da diese aufgrund ihres (noch) geringen Einkommens häufig in die Gruppe der armutsgefährdeten Personen fallen, jedoch teils auch geringere Kosten und tendenziell eine gute Einkommensperspektive haben, wodurch ihre finanzielle Lage eine andere Bedeutung für die Wohlstandssituation haben kann.
Der überdurchschnittliche Anteil der oberen Einkommensgruppen im Ehrenamt ist ebenfalls kein Leipziger Sonderphänomen, sondern für ganz Deutschland feststellbar (Simonson & Kelle, 2021, S. 12, 75f). Innerhalb der verschiedenen Altersgruppen ist der Anteil der Engagierten sehr ähnlich groß, einzig in der Gruppe der Senior/-innen ab 65 fällt er mit 14 Prozent ehrenamtlich Aktiven wie in allen Vorerhebungen etwas kleiner aus.“
Immerhin haben die Befragten 2022 ihren zeitlichen Aufwand für das Ehrenamt mit monatlich 15,9 Stunden angegeben. 2021 waren es noch 13,7 Stunden gewesen.
Zeit, die man erst einmal freischaufeln muss, falls man Vollzeit im Berufsleben steht und vielleicht auch noch Familie hat.
Ein Thema, das ja mit der Corona-Pandemie sehr in den Mittelpunkt rückte.
„Eltern gehören zu den Gruppen, die während der Corona-Pandemie durch einen Zuwachs an Care-Arbeit im besonderen Maße Mehrbelastungen erlebt haben, wodurch sich auch das verfügbare Zeitkontingent verringerte“, heißt es im Bericht zur Bürgerumfrage. „Eltern von Kind(ern) unter 14 Jahren, die in der Altersgruppe zwischen 34 und 49 Jahren besonders stark vertreten sind, mussten aufgrund von Schul- und Kitaschließungen Betreuungsausfälle kompensieren und Unterrichtsbegleitung leisten.“
Was dann den Anstieg des zeitlichen Aufwands fürs Ehrenamt nach Corona erklären könnte: „Auf den ersten Blick liegt die These nahe, dass der größere Umfang des ehrenamtlichen Engagements sich aus wieder freigewordenen zeitlichen Ressourcen der Gruppen speist, die im Vergleich zum Vorjahr einen höheren mittleren Stundenumfang investieren.
Jedoch lag der mittlere Umfang der ehrenamtlichen Arbeit vor der Pandemie 2019 insgesamt noch geringer und fand sich insbesondere bei Frauen und Eltern auf deutlich niedrigerem Niveau, sodass die These keine abschließende Erklärung bietet.“
Ehrenamt in Konkurrenz zu Care-Arbeit
Einen Grund vermuten die Statistiker trotzdem: „Unter den Eltern nahm der Umfang ehrenamtlicher Tätigkeit im ersten Pandemiejahr 2020 sogar erst einmal leicht zu, wobei hier private Initiativen zur freiwilligen Kinderbetreuung als Freiwilligenarbeit bewertet worden sein könnten.
Eine Erklärung dafür, warum die Gruppe 2022 deutlich mehr Zeit ins Ehrenamt investiert, könnte in einem ‚Nachholeffekt‘ nach der Corona-Pandemie bestehen: Da in Schulen und Kindergärten sowie in den Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit viele Angebote und Veranstaltungen pandemiebedingt ausfallen mussten, ist davon auszugehen, dass sie 2022 verstärkt wieder umgesetzt wurden.“
Doch die Befragung scheint zu bestätigen, dass es vor allem die Care-Arbeit ist, die dafür sorgt, dass Frauen weniger Ehrenamt leisten können als Männer und dass ihr ehrenamtlicher Zeitaufwand genau dann sinkt, wenn es – wie in den Corona-Jahren – zuhause mehr Care-Arbeit gibt: „Es ist möglich, dass Frauen weniger Zeit für ein Ehrenamt aufwenden konnten bzw. können, da sie – auch unabhängig von der Pandemie – durchschnittlich mehr Care-Arbeit übernehmen als Männer (Möhring & Naumann, 2020, S. 13; Bujard & Laß, 2020, S. 40).
Auch in Leipzig waren Männer in den vergangenen Jahren stets in etwas größerem Umfang ehrenamtlich aktiv als Frauen, wobei sich diese Differenz im Corona-Jahr 2021 verstärkt und zuletzt auf eine statistisch kaum mehr bedeutende Differenz verringert hat.“
Ganz so gering ist die Differenz nicht. Männer leisteten 2022 durchschnittlich 16,8 Stunden ehrenamtliche Arbeit, Frauen kamen auf 14 Stunden.
Aber Aufmerksamkeit verdient auch die teilweise enorme Kluft zwischen dem Interesse an Ehrenamt und der tatsächlich Umsetzung. Am größten ist diese im sozialen Bereich, wo 42 Prozent der Befragten Interesse zeigten, sich aber nur 12 Prozent engagieren. Gefolgt von Umwelt- und Tierschutz, wo sich 36 Prozent gern engagieren würden, es aber nur 11 Prozent tun.
Nach den Gründen, warum sich die Befragten dann doch nicht engagieren, wurde leider nicht gefragt. Das könnte wahrscheinlich ein wenig erhellen, welche Hindernissse es in unserer Gesellschaft gibt, dass Menschen sich – neben Arbeit und Familie – noch gesellschaftlich engagieren können.
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