Dass viele Menschen heute gesellschaftlich so abdrehen und in seltsamen Blasen landen, hat auch damit zu tun, dass immer mehr Menschen vereinsamen und immer weniger Kontakte zu anderen Menschen haben. Denn Kontakte stabilisieren nicht nur das eigene gesellschaftliche Umfeld, sorgen für neue Erfahrungen und neue Lebensfreude, sie helfen auch, aus dem eigenen Gedankengefängnis auszubrechen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Eine echte Frage auch für die Nach-Corona-Zeit.

Und deshalb ließ die Stadtverwaltung in der Bürgerumfrage 2022 auch wieder abfragen, welche neuen persönlichen Kontakte sich die befragten Bürger eigentlich wünschen. Denn so ganz freiwillig lebt der Mensch ja nicht allein.

„Persönliche Kontakte abseits der Kernfamilie werden insbesondere in Großstädten, in denen häufig mehr als 50 Prozent der Einwohner/-innen in 1-Personen-Haushalten leben, immer wichtiger. In Leipzig betrug der Anteil der 1-Personen-Haushalte 2022 (Stichtag: 31.12) 56,1 Prozent. Auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen außerfamiliäre Kontakte, zumal wenn sie zwischen verschiedenen Generationen stattfinden, eine zentrale Rolle“, kann man im Bericht zur Bürgerumfrage lesen.

Wo sich die Leipziger mehr Begegnungen wünschen. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2022
Wo sich die Leipziger mehr Begegnungen wünschen. Grafik: Stadt Leipzig, Bürgerumfrage 2022

Wobei betont werden muss: Viele Alleinlebende haben auch kaum noch Kontakte zur Kernfamilie. Aber das wurde dann leider nicht extra abgefragt. Obwohl das Thema brennt, gerade im Angesicht zunehmend radikalisierter „social media“, die für viele Menschen die echten Begegnungen mit anderen Menschen ersetzt haben. Die aber auch politische Einstellungen radikalisiert haben und damit Risse mitten durch Familien und zwischen den Generationen aufgetan haben.

Doch nicht raus aus der Blase?

Gefragt wurde eher nach Kontakten außerhalb der Familie: zu anderen älteren, jungen, berufstätigen Menschen, Kindern oder Hochbetagten. Was meist ein frommer Wunsch bleibt, wenn einer nicht aus seiner Wohnung kommt und sich nicht mehr „unter Leute“ traut. Denn natürlich haben die einsam machenden Medien auch diesen Effekt: Man traut sich nicht mehr, Bekanntschaft mit anderen Menschen zu machen. Auch aus Furcht, dabei auf eine Ballung von Aggression zu stoßen.

Was ganz bestimmt einer der Gründe dafür ist, warum sich immer mehr Wähler/-innen in Sachsen zunehmend in Einsamkeit radikalisieren. So gedacht, ist das Frageschema tatsächlich zu eng. Es vernachlässigt die Gründe für die zunehmende Vereinsamung in unserer Gesellschaft.

Die Corona-Jahre haben das Gefühl der Vereinsamung bei vielen Leipziger/-innen noch verstärkt, kann man im Bericht zur Bürgerumfrage lesen: „Besonders augenfällig sind dabei folgende Entwicklungen: Bis auf wenige Ausnahmen wünschen sich die Befragten aller Altersgruppen 2022 häufiger Kontakte zu den abgefragten Gruppen als 2018. Ausnahmen sind der deutlich abgenommene Kontaktwunsch von 18- bis 24-Jährigen zu außerfamiliären Kindern (-20 Prozentpunkte) und zu Menschen mittleren Alters (-14 Prozentpunkte). Bei den jungen Erwachsenen steigt im Zeitvergleich damit lediglich der Wunsch, Kontakte zu Jugendlichen zu haben (+23 Prozentpunkte). Generell steigt der Wunsch nach Kontakten zu Jugendlichen in allen betrachteten Altersgruppen im Vergleich zu 2018. Einen Ausreißer beim Wunsch nach mehr Kontakt bildet der Wunsch der 75- bis 90-Jährigen nach mehr Kontakten zu ihresgleichen (+22 Prozentpunkte).“

Wenn sich Generationen nichts mehr zu sagen haben

Ob das eine so gute Entwicklung ist, darf man fragen. Denn diese Veränderungen können auch davon erzählen, dass sich die verschiedenen Generationen nichts mehr zu sagen haben; dass die Jugendlichen mit den Älteren zum Beispiel nichts mehr zu tun haben wollen, weil es immer weniger gemeinsame Themen gibt und viele Ältere beim Thema Zukunft geradezu schwerhörig bis ignorant reagieren. Und die ganz Alten wollen lieber auch nur noch mit den ganz Alten verkehren, weil man augenscheinlich nur noch unter Gleichaltrigen das Gefühl hat, noch zu verstehen, worum es geht.

Fragezeichen.

Natürlich. Denn nach den Gründen für diese Veränderung hat die Bürgerumfrage nicht gefragt. Es kann sich in diesen Veränderungen auch direkt der Clash der Generationen abbilden; das zunehmende In-Blasen-Verschwinden, weil sich alle nur noch in Blasen Gleichgesinnter bewegen und Begegnungen außerhalb der Blasen zumeist in Konflikten und Missverständnissen enden.

Eigentlich ein sehr spannender Fragekomplex, der sich aber nicht auflöst, wenn – wie in früheren Umfragen – lediglich gefragt wird, wo die Befragten vielleicht gern andere Leute treffen möchten.

„Am häufigsten genannt werden Begegnungen im öffentlichen Raum, Stadtteilfeste und Kurse. Eine deutliche Zunahme bei der Popularität im Vergleich zu 2018 verzeichnen Stadtteilfeste (+12 Prozentpunkte) und Nachbarschaftsprojekte (+11 Prozentpunkte), also Begegnungsformen, die eher in der Nähe der eigenen Wohnung liegen“, heißt es im Bericht.

Was eben auch heißt: Dem Wohnort näher sind natürlich die Chancen auch größer, Leuten zu begegnen, die man vielleicht sogar vom Sehen kennt und die über ähnliche Probleme reden können. Die Botschaft ist schon richtig: Hier sind überhaupt für eine zunehmend vereinzelte Stadtgesellschaft die Chancen am größten, dass Ängste und Abwehrreflexe überwunden werden und Menschen wieder miteinander reden, statt immer nur übereinander.

Man ahnt dabei schon, wie wichtig tatsächlich Nachbarschaftsinitiativen aller Art sind und öffentliche Orte, an denen sich Menschen ohne Barrieren begegnen können. Ein ziemlich neues Thema für die Stadtpolitik, das auch mit dem nicht ganz unwichtigen Thema der Aufenthaltsqualität auf Straßen und Plätzen zu tun hat.

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