2017 habe ich zum ersten Mal für die Leipziger Zeitung über das geschrieben, wovon ich träume, was mich bewegt, was ich mir wünsche. Vieles hat sich seitdem ereignet: eine Pandemie, die sich auf uns alle ausgewirkt, die unser Leben in einer Weise geprägt hat, die ich mir vorher nicht vorstellen konnte.

Ein Krieg in Europa, der mir bewusst macht, wie wichtig es ist, wachsam zu bleiben und bereit zu sein, Menschenrechte und demokratische Werte zu verteidigen. Ein Krieg im Nahen Osten, der so viele unschuldige Menschen mit kaum vorstellbarem Leid überzieht. Eine sich verschärfende Klimakrise, deren Auswirkungen wir inzwischen deutlich zu spüren bekommen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die sich zunehmend im täglichen Leben breitmacht.

Ist das eine Zeit zum Träumen? Ja!

Ja, wenn wir nicht im Träumen verhaftet bleiben. Ich träume davon, in buchstäblich heißer gewordenen Zeiten Kälte zu überwinden. Das mag paradox klingen. Und doch sind es diese Krisen, die viele Menschen dazu gebracht haben, sich abzugrenzen.

Abzugrenzen gegen die, die anders sind, die anders leben, anders lieben, anders aussehen und eine andere Sprache sprechen. Ängste werden geschürt und politisch instrumentalisiert. Aus Abgrenzung wird Ausgrenzung, aus Angst wird Kälte, wird Hass.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 120, VÖ 22.12.2023. Foto: LZ

Ich träume davon, dass wir wieder mehr einander zuhören, aufeinander zugehen und bereit sind, andere Menschen und Meinungen im Rahmen unserer Grundwerte zu akzeptieren. Zum Zusammenhalt in einer Gesellschaft genügt es nicht, nur auf „die da oben“ mit dem Finger zu zeigen. Einfache Lösungen gibt es kaum in einer immer komplexer werdenden Welt. Wer etwas anderes behauptet, gerade auf politischer Ebene, propagiert im Kern ein Bild, das auf Spaltung und Ausgrenzung hinausläuft.

Ich träume davon, dass noch mehr Menschen dem entgegentreten. Nicht mit Wut und Hass, manchmal auch mit Innehalten, sich selbst etwas Zurücknehmen, aber immer mit Entschlossenheit. Erwiesene Extremisten dürfen nicht Teil des Konsenses in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft sein. Vorschnelle Verurteilungen, auch und gerade in sozialen Medien, aber auch solche Demonstrationen, die vor allem Ausdruck von Selbstgerechtigkeit und geprägt von Aggression sind, sind kontraproduktiv.

Die (Selbst-)Inszenierung als Opfer überlagert gelegentlich leider die wahre Problematik und schadet dem Anliegen, um das es eigentlich gehen sollte. Mehr Selbstreflexion tut oft genug Not. Durchatmen statt Schnappatmung.

Ich träume davon, dass meine Freundinnen und Freunde, mögen sie aus einem anderen Land kommen, eine andere Hautfarbe oder Religion haben, anders leben und lieben als ich, sich in meiner Stadt Leipzig und in meinem Land wohl und sicher fühlen können.

Für diesen Traum, Ausgrenzung und Kälte zu überwinden, engagiere ich mich. Ehrenamtlich und im Alltag, wie so viele andere auch. Ich träume davon, dass es noch mehr werden. Nötig sind Investitionen in Bildung, soziale Einrichtungen und Strukturen und eine noch bessere Förderung des Ehrenamtes.

Aber bei aller Offenheit halte ich es mit Karl Raimund Popper: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, Intoleranz nicht zu tolerieren.“

Zum Verfasser: Rüdiger Harr (59) ist Vorsitzender Richter der 8. Strafkammer am Landgericht Leipzig. Er leitet dort Verhandlungen unter anderem wegen Rauschgift-, Sexual- und Raubdelikten Erwachsener.

„Wenn Leipziger*innen träumen: Kälte überwinden“ erschien erstmals im am 22.12.2023 fertiggestellten ePaper LZ 120 der LEIPZIGER ZEITUNG.

Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar