Einleitend sei gesagt, dass der Autor beim Erstellen des Artikels zwischen Ernsthaftigkeit, Ironie, Zynismus und Belustigung schwankte. Ich bitte um Beachtung. Friedrich Merz, der CDU-Parteichef, bringt es auf den Punkt. Er sagte zur Funke-Mediengruppe: „Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen“. So einfach kann diese Leitkultur für einfache Gemüter sein.
Die CDU hat in ihrem Grundsatzprogramm, nach einigen Jahren Stille um den Begriff, erneut das Thema Leitkultur aufgegriffen. Menschen sollen sich dieser Leitkultur anschließen, oder sich ihr unterwerfen – wie auch immer.
Als Mitte 60-Jähriger, der noch den „Zauberlehrling“ fast und den „Osterspaziergang“ teilweise rezitieren kann, der als Agnostiker zu Weihnachten in der Kirche für „Herbei O ihr Gläubigen“ kein Gesangbuch braucht und der sogar einen leckeren Schweinebraten mit Sauerkraut und Knödel alsnGericht kochen kann, frage ich mich allerdings: „Was soll diese Leitkultur sein?“
Zum Einstieg eine kurze Geschichte betreffs des Themas. Der russische Schriftsteller Lukianenko lässt in einem seiner Wächter-Romane den „dunklen Anderen“ Edgar einen amerikanischen Offizier fragen: „Gibt es etwas in Ihrem Leben, das Ihnen heilig ist? Etwas das Ihnen viel bedeutet?“ Nach längerem Zögern antwortet dieser strahlend: „Etwas das mir heilig ist? Natürlich habe ich das! Die Chicago Bulls!“
Was ist eigentlich eine Leitkultur?
Bassam Tibi, ein deutsch-syrischer Politikwissenschaftler, der den Begriff zumindest mitgeprägt hat, sagt dazu: „Es ist eine in allen anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass ein Gemeinwesen – gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig – einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigt. Dies ist die unerlässliche Klammer zwischen den in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur.“
Eine Hausordnung, die konsensuell erstellt wurde, ein interessanter Gedanke. Schauen wir nach Deutschland unter die „Eingeborenen“ und den Konsens. Als die Debatte im Jahre 2017 erneut aufkam, gab es eine Umfrage der FAZ, mit dem Ergebnis: „Die Mehrheit hält deutsche Leitkultur für notwendig.“
„Als wichtigste Elemente einer deutschen Leitkultur nannten die Befragten die deutsche Sprache, das Bekenntnis zum Grundgesetz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Ablehnung radikaler, der demokratischen Grundordnung widersprechender Positionen.“
Ist Sprache Konsens in Deutschland?
Wie sprechen die Deutschen? – Bis auf wenige Gegenden in Deutschland, hier sei Hannover als Beispiel genannt, sprechen Deutsche einen Dialekt. Oft ist das nicht nur eine Verschleifung der Aussprache, es ist eine Art Deutsch, auch mit teils unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Von Nord nach Süd muss man in Deutschland wissen, ob man viertel vor zwölf einen Krapfen oder dreiviertel zwölf einen Berliner oder Pfannkuchen essen will.
Wie das „Standard-Brötchen“ regional heißt, darüber streiten sich sogar die Götter. Auch die Grammatik unterscheidet sich örtlich, hier sei Berlin genannt, wo „Ick dir kenne“.
Ad hominem, ich habe als Sachse in Bremen/Niedersachsen zehn Jahre im Kundendienst gearbeitet und weitere zehn Jahre im deutschlandweiten telefonischen Kundenservice. Ich konstatiere: Die einheitliche Deutsche Sprache ist ein Mythos. Dazu kommt selbstverständlich das Amtsdeutsch, welches oft ein Germanist nicht versteht. Das haben wir übrigens ganz ohne Migration geschafft.
Sind christliche Werte Konsens?
In der Umfrage nicht benannt, aber gerade von CDU/CSU gern in die Debatte um die Leitkultur eingebracht, sind diese christlichen Werte. Um den Zusammenhang mit der Leitkultur zu prüfen, schauen wir uns an, nach welchen Maßstäben wir unsere Kinder beschulen.
In Sachsen kann man im Sächsischen Schulgesetz (§3 Abs. 3.2) lesen:
„Diesen Auftrag erfüllt die Schule, indem sie den Schülern insbesondere anknüpfend an die christliche Tradition im europäischen Kulturkreis Werte wie Ehrfurcht vor allem Lebendigen, Nächstenliebe, Frieden und Erhaltung der Umwelt, Heimatliebe, sittliches und politisches Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit und Achtung vor der Überzeugung des anderen, berufliches Können, soziales Handeln und freiheitliche demokratische Haltung vermittelt, die zur Lebensorientierung und Persönlichkeitsentwicklung sinnstiftend beitragen.“
In Bayern klingt das so: „Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung, vor der Würde des Menschen und vor der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur, Umwelt, Artenschutz und Artenvielfalt.“
Das lässt den Schluss zu: Wenn wir in der Schule unsere Kinder nach christlichen Werten erziehen, dann müssen diese wohl zwingend ein Bestandteil einer Leitkultur sein.
Sind sie deshalb Konsens? Die letzten Zahlen zur Religionszugehörigkeit legt Kirchenaustritt.de, mit der Quelle Kirchenamt der EKD, für 2022 vor und weiter gibt es Kirchenaustritte.
In Bayern konnte man nach diesen Zahlen, mit 43,5 % Katholiken und 16,1 % Protestanten wohl gerade noch von einem Konsens für christliche Werte ausgehen. In Sachsen, mit 3,5 % Katholiken und 16,1 % Protestanten, ist der Konsens wohl nicht gegeben.
Ohne weiter ins Detail zu gehen, muss aber angemerkt werden, dass „freiheitliche demokratische Haltung“, „Gleichberechtigung von Männern und Frauen“ und „Achtung vor religiöser Überzeugung“ (außer christlicher) nicht zur christlichen Tradition der Hochkirchen gehören.
Immerhin können beide Schulsysteme stolz auf „Fridays 4 Future“ und sogar die „Letzte Generation“ sein, sie scheinen „Ehrfurcht vor allem Lebendigen“, „Erhaltung der Umwelt“ und „Verantwortungsbewusstsein für Natur, Umwelt, Artenschutz und Artenvielfalt“ diesen vermittelt zu haben.
Freiheitlich demokratische Haltung – Konsens?
Zuerst, christliche Tradition ist Demokratie und somit auch Freiheit nicht. Die Bibel (Roemer 13:1) sagt schließlich:
„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“
Dazu passt unser leitkulturelles Idol Goethe, wenn er Faust sagen lässt: „Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“
Ja, das ist Demokratie-Beteiligung, tägliche Arbeit und auch Aufmüpfigkeit gegenüber Autoritäten.
Konsens ist aber eher Demokratiemüdigkeit, 76,6 % Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021, 66,5 % bei der Landtagswahl Sachsen 2019 und 59,7 % bei der Stadtratswahl Leipzig 2019. Das ist aber nur der Teil Wahlbeteiligung, den man so schön statistisch erfassen kann.
In der täglichen politischen Arbeit vor Ort, also dem Teil, wo das behandelt wird, was jeden einzelnen direkt betrifft, ist die Beteiligung weitaus geringer. Egal wo man hinschaut, bei den Foren, Gesprächs- und Diskussionsformaten und ähnlichen Veranstaltungen, egal zu welchem Thema: Man sichtet meist die „üblichen Verdächtigen“.
Glaubt man der Extremismusstudie, dass knapp 7 % der Wähler in den neuen Bundesländern eine Diktatur befürworten, stellt aber dagegen, dass bis zu 30 % eine Partei wählen würden, die diese als Programm hat, dann ist es mit dem demokratischen Konsens nicht weit her.
Was wir haben ist eine „Demokratie der Schreihälse“ auf (a)sozialen Medien, dort werden Meinungen gebildet.
Ist Gleichberechtigung von Mann und Frau Konsens?
Hochkirchlich christlich ist sie jedenfalls nicht, die Kirchen sind patriarchalisch ausgerichtet. Ja, die katholische äußerlich mehr als die protestantische, aber frage man mal eine evangelische Pfarramtsstudentin nach ihren Erfahrungen.
Man kann schließlich nicht alles haben, der Apostel Paulus brachte das in christlicher Manier auf den Punkt: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.“ (1. Korinther 14:34).
Ansonsten hapert es oft mit der Gleichberechtigung, bei der Aufteilung der häuslichen und care-Arbeit geht das schon im Familienkreis los. Ja, eine Leitkultur müsste man leben. Das wirkt sich dann auch auf die Arbeitswelt (gender-pay-Gap) und auf die Repräsentation in politischen Ämtern aus. Der Frauenanteil in Parteien ist bei denjenigen, die eine Leitkultur fordern, am niedrigsten.
Bekenntnis zum Grundgesetz
Das Grundgesetz als Hausordnung betrachten? Gefällt dem Autor, wenn da nicht diese Sache mit den Auslegungen beider wäre.
Das beginnt mit Artikel 1 GG wo es heißt: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
„Des Menschen“ hat die Bedeutung „Jedes Menschen“, also ohne Unterscheidung Einheimischer, Zuwanderer, Mann, Frau, heterosexuell, anders sexuell oder sonstige Unterscheidungen. Trotzdem werden Menschen von der staatlichen Gewalt oft würdelos behandelt.
Das kann Obdachlose betreffen, deren Zufluchtsorte brutal geräumt werden, friedlich demonstrierende Menschen, die Leibesvisitationen in „Maßnahmen“ unterworfen werden oder auch Migranten, deren Kinder zwecks Abschiebung aus der Schule abgeholt werden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Wenn also die „staatliche Gewalt“, die die Menschenwürde schützen soll, sich nicht immer daran hält – was verlangt sie von anderen Menschen?
Genug der Details, die Frage steht, ob Migrantinnen und Migranten künftig ein Bekenntnis zum Grundgesetz ablegen sollen. Oder wollen wir gleich einen deutschen „Pledge of Allegiance“, einen Treueschwur, einführen, den alle, auch die „Eingeborenen“, leisten müssen? Was aber, wenn ein Mensch, eine Menschengruppe oder sogar eine Partei sich gegen Teile des Grundgesetzes auflehnt?
Was wäre eine Hausordnung?
In Frankreich machte es sich der damalige Präsident Hollande im Jahre 2015 einfach. Er plante einen Werteunterricht an den Schulen, um die Grundregeln der Republik zu vermitteln.
„Es gehe darum, den Schülern bereits ab der ersten Klasse und bis zum Abitur die „Grundregeln“ der Republik zu vermitteln, sagte der Sozialist […]. Zu diesen Regeln gehöre auch der Grundsatz der Laizität, also der Trennung von Staat und Kirche. Laizismus richte sich nicht gegen die Religionen, sie garantiere im Gegenteil die Religionsfreiheit.“
Die Idee war gut, aber wenn man nach Frankreich schaut, wohl nicht ausreichend. Die größere Frage ist: „Was machen wir mit den erwachsenen Menschen, wie vermitteln wir diesen die Hausordnung und was sollen deren Inhalte sein? Wenn wir die Regeln selbst nicht kennen, wer soll sie dann befolgen?“
Spoiler: Der Weihnachtsbaum sollte nicht zwingend zur Hausordnung gehören.
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“Von Nord nach Süd muss man in Deutschland wissen, ob man viertel vor zwölf einen Krapfen oder dreiviertel zwölf einen Berliner oder Pfannkuchen essen will.”
Nein, muss man nicht. Man kann sich durchaus verständigen und kommt damit durch, egal ob in Kiel, Berlin oder München. Was es gibt sind Stirnrunzeln und die ein oder andere Nachfrage bei regionalfremden Begriffen wie “Tram”, die hier eben anders genannt wird. Man kann auch ewig diskutieren, ob es “An Weihnachten” oder “zu Sy(i) lvester” heißt. Aber gerade wenn man wie Sie, Herr Köhler, offenbar wirklich sattelfest ist in allen möglichen Gebieten unserer Kultur (Mundarten, Liedgut, Lyrik, Kulinarik), und ich bei dem ein oder anderen Teilgebiet neidisch Respekt zollen müsste (Lyrik, Kulinarik), frage ich mich trotzdem, woher jedes mal der Impuls zu widersprechen herkommt, wenn jemand “Leitkultur” sagt. Und die erste Assoziation ist natürlich “unterwerfen”, klar.
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Als ich chinesische Firmenpartner hier bei uns betreut habe, sagten sie, es wäre hier so ordentlich und sauber. Mir ist klar, was gemeint war, ohne das es ein skalpellscharfer Unterschied zu China sein muss, es dort also nicht überall dreckig sein muss.
Ich habe mit einem syrischen Flüchtling am Strand vom Cossi gelegen. Er sagte, hier in Deutschland wäre alles so sicher, er würde in keinem arabischen Land seine Sachen unbewacht zurücklassen beim Baden. Mir ist klar was er meint, ohne dabei zu vergessen, dass auch hier ab und zu geklaut wird, trotz das im Grundsatz klar ist, das man anderer Leute Dinge nicht anfasst.
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Ich finde das ganz gut mit der Leitkultur. Was man mit dem Begriff genau macht weiß ich auch nicht, aber man kann ja mal drüber reden. Ich hab mir dieses Jahr jedenfalls keinen Baum gekauft…Grüße an Herrn Merz.