Schon lange tut sich ein Widerspruch auf: Auf der einen Seite bildet die Ampel-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ein erstaunlich breites gesellschaftspolitisches Spektrum ab. Dieses geht weit über das tatsächliche Wahlergebnis von 2021 hinaus, weil es die sehr ausdifferenzierte, divers gewordene Gesellschaft widerspiegelt. Gleichzeitig sind aber die Zustimmungswerte zur Ampel-Koalition in den Keller gerutscht.

Woran Letzteres liegen mag? Es ist das allzu häufig streitige und langwierig erscheinende Bemühen, für politische Entscheidungen in dieser gespreizten Koalition einen Konsens zu finden – und das unter Bedingungen, die durch Gerichtsentscheidungen nicht einfacher geworden sind. Dennoch ist unübersehbar: Konsens und damit politische Weichenstellungen sind möglich, siehe Mindestlohn, Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Energiewende und eine strategisch angelegte Außenpolitik.

Und fast noch wichtiger: Trotz großer Unzufriedenheit mit der Ampel-Koalition herrscht keine Wechselstimmung, und schon gar nicht ist die Erwartung spürbar, dass eine andere Regierungskonstellation es besser machen könnte. Also wird sehr viel darauf ankommen, dass die jetzige Koalition ihre besondere Herausforderung annimmt und den Konsensspagat schafft. Ein solches Bewusstsein könnte den anstehenden Entscheidungen nur zuträglich sein.

Wenn diese Einschätzung der Lage nicht völlig abseitig ist, dann wird auch die Rolle von Bundeskanzler Olaf Scholz als Moderator im Hintergrund zumindest nachvollziehbar, wenn nicht sogar verständlich. Würde er nach dem Basta-Prinzip eines Gerhard Schröder „führen“, so wie es medial und von der Opposition jeden Tag mit zunehmender Vehemenz und Häme verlangt, gefordert, eingeklagt wird, wäre diese Koalition schon längst am Ende.

Denn dann würde Scholz sehr schnell den Rückhalt in der eigenen Partei verlieren, weil er zu viele Kompromisse zugunsten von FDP und Grünen machen und diese als SPD-Politik verkaufen müsste; auch stellte sich für die beiden kleineren Partner die Koalitionsfrage viel früher. Insofern kann ich der Regierungsart von Olaf Scholz viel Positives abgewinnen. Meine Erwartung: Dieser insgesamt unaufgeregte Stil wird sich in zwei Jahren auszahlen.

Natürlich sind die politischen Herausforderungen immens – nicht zuletzt deshalb, weil in Deutschland in den ersten drei Jahrzehnten nach 1990 politisch von der Substanz und auf Verschleiß gelebt wurde. Wenn es jetzt zu einem Regierungswechsel kommen würde, droht eine Verlängerung der Sackgassenpolitik. Also ist es Aufgabe der Ampel-Koalition, den immensen Investitions- und Entscheidungsstau der vergangenen 30 Jahre auf allen Politikfeldern aufzulösen.

Das ist aber nur möglich, wenn die Ampel-Koalition das breite gesellschaftspolitische Spektrum, das sie abbildet, auch produktiv nutzt. Das sollte vor allem die FDP dazu veranlassen, endlich ihr zur Schau gestelltes Fremdeln einzustellen. Ähnlich wie 1969ff. – da bekannte sich die FDP gegen innere Widerstände zur umfassenden Reformpolitik der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP – wird sie sich auch programmatisch darauf einzulassen haben, dass sie ihre Ziele nur mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen erreichen kann.

In dem Moment, in dem sie sich dazu durchringt, werden ihre Umfragewerte steigen.

Dies alles bedenkend, sehe ich – gerade nach dem BVG-Urteil zum Finanzgebaren der Ampel-Koalition – die Chance, dass diese Regierung noch einmal durchstartet. Der Einigungszwang wird dazu führen, dass Wege gefunden werden, um Haushaltsdisziplin und Investitionsnotwendigkeiten in Einklang zu bringen. Wer glaubt, dass dies durch eine Machtwortpolitik des Bundeskanzlers oder auf die Schnelle möglich ist, verkennt die Problemlage.

In einer individualisierten Gesellschaft, in der die Konsens stiftenden Institutionen an Bedeutung verlieren, wird es immer schwieriger, für politische Entscheidungen der Parlamente und Regierungen Zustimmung in der Bevölkerung zu finden. Divergierende Interessen im demokratischen Diskurs politisch zusammenzuführen, ist die eigentliche Herausforderung, vor der Parteien wie Parlamente stehen.

Insofern könnte es sich als Segen erweisen, wenn die Bundesregierung beispielhaft zeigt: Konsens und Diversität müssen kein unüberbrückbarer Gegensatz bleiben – zumal in dem Moment, in dem gesellschaftspolitische Probleme in einen Lösungsmodus überführt werden, eine AfD ganz schnell an Bedeutung verliert, weil sie außer rechtsnationalistischer Propaganda und Ausgrenzungshäme nichts anzubieten hat.

Die Ampel sollte jetzt die Chance nutzen, die gleichzeitig die größte Schwierigkeit darstellt: die Unterschiedlichkeit, wie sie auf allen Ebenen der Gesellschaft vorhanden ist, durch Entscheidungen zu wahren und zu überbrücken. Dazu bedarf es aber einer gewinnenden Kommunikation auf den Politikfeldern, die jetzt beackert werden müssen: Energiewende, sozialer Zusammenhalt, Migration, europäische Friedenspolitik. An dieser Kommunikation mangelt es seit langem.

Darum hat der mediale Panikmodus relativ leichtes Spiel. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die Ampel-Parteien das Wechselspiel von Konsens und Diversität noch nicht beherrschen. Das zu befördern, ist eine der Hauptaufgaben von Bundeskanzler Olaf Scholz, aber auch der Repräsentant/-innen der Ampel-Koalition.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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