Meine Schwiegermutter ist rassistisch. Nicht so, wie es alle Menschen in einem rassistischen System sind – sondern explizit und selbstverständlich rassistisch. Es ist ein merkwürdiges Skript, welches sich immer wiederholt: Ständig schimpft sie über die türkischen Jungs, die vor ihrer Terrasse lungern, dann darüber, wie heutzutage alles „viel schlimmer“ geworden ist und niemand ja nirgends mehr sicher wäre.
Dass es „früher“ ja nicht so viel Gewalt gegeben hätte und die Politik viel zu nachlässig gegenüber Geflüchteten wäre. Ich wundere mich längst nicht mehr, wie sie von deutschen Jugendlichen auf Menschen mit Fluchtgeschichte kommt und auch nicht, welche von diesen Menschen sie tatsächlich meint und welche nicht.
Denn fremd sind mir die Ängste meiner Schwiegermutter nicht. Meine Schwiegermutter ist eine weiße Frau und für mich bedeutet das, dass ihre Ängste überall sind. Ich sehe ihre Ängste in Schlagzeilen, die einen Namen durch die Herkunft ersetzen. In Aufwärtstrends für rechtsextreme Parteien und in Bundestagsdebattierenden, die unsere „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ als bedroht erklären und deshalb Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen.
Ich sehe ihre Ängste in den misstrauischen Blicken der Polizist*innen, in brennenden Asylunterkünften und dem Waffenverbotsschild auf der Eisi. Schwiegermutters Blick auf die Welt ist unsere gesellschaftliche Norm. Sie kann von einem Standpunkt aus beobachten, der sich als neutral ausgibt, als unmarkiert, und durch Zeit und Raum als universal verstanden wird.
Ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen sind nicht menschlich, sondern Erfahrungen der Menschheit. Und deshalb sehe ich die Ängste meiner Schwiegermutter überall und meine eigenen Ängste, die Ängste von Menschen, die eben nicht als deutsch gelesen werden, die keinen Pass haben oder einen Pass haben und trotzdem für immer „fremd“ bleiben, nirgendwo.
Ich frage mich, ob meine Schwiegermutter sich weniger fürchten würde, wenn sie auch meine Ängste kennen würde. Was passieren würde, wenn sie ihre Denkgewohnheiten, ihr Erlerntes durch die Linse meiner Gewohnheiten und Wahrheiten betrachten würde. Ich stelle mir das in etwa so vor, wie der französisch-karibische Philosoph Édouard Glissant die Entstehung von Jazz-Musik charakterisiert.
Verschleppte und versklavte Menschen vom afrikanischen Kontinent wurden nicht nur aus ihrer Lebenswelt gerissen, sondern auch jeglichen Zugängen zu ihren Kulturen und Identitäten beraubt. Erinnerung und eine Neuformulierung afrikanischer Traditionen wurden so zu einer mächtigen Widerstandspraxis, aus der bis heute einzigartige Kulturproduktionen entstehen, von denen auch die westliche Welt massiv profitiert.
So auch Jazz, welcher in seinen ersten Stunden nichts anderes war als das Spiel afrikanischer Rhythmen und Musiktraditionen auf Instrumenten der westlichen Klassik.
Mir gefällt die Idee, nicht nur Kulturen, sondern auch Identität in Beziehung zu „dem Anderen“ zu denken. Vielleicht würde sich meine Schwiegermutter nicht unbedingt weniger fürchten. Aber zumindest würde sie dann erkennen, dass ihre Wahrnehmungen in Beziehung zu anderen Wahrnehmungen existieren können. Dass sich aus diesen Beziehungen neue Denk- und Deutungsangebote ergeben können.
So ist das deutsche Wirtshaus ihrer Wahl tausendmal gruseliger als die Eisi – für mich zumindest und trotzdem oder gerade genau deshalb kann ich sehen, dass Schwiegermutter und ich uns im Grunde genommen vor dem Gleichen fürchten: toxische Männlichkeiten.
Glissant war es auch, der vor den Gefahren universalistischer Denksysteme warnte. „Die einzelne Wurzel tötet in ihrer Umgebung ab“, schreibt er in einem Essay, „während das Wurzelgeflecht sich in der Begegnung mit anderen vernetzt“.
Selbstverständlich ist es verlockend, in Zeiten von Verunsicherung und Chaos auf gelernte Ordnungen zurückzugreifen. Heute empfehle ich als Alternative, eine Jazz-Platte aufzulegen und sich zu fragen, wem diese gelernten Ordnungen eigentlich dienlich sind: Einer einzelnen Wurzel oder jeder Wurzel im Geflecht?
Bailey Ojiodu-Ambrose ist Projektmitarbeiter im „(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft“, ein Modellprojekt des Verband binationaler Familien und Partnerschaften iaf e. V.
Vorliegender Gastbeitrag entstand im Rahmen des Modellprojekts „(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft“, das durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und das Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen“ (WOS) gefördert wird. Die Veröffentlichungen stellen keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autoren/die Autorinnen die Verantwortung.
Mehr zum Festival „Gefahrenzonen“ unter https://gefahrenzonen.binational-leipzig.de/de/.
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