Es gibt Situationen, da sind Solidarität und Empathie ohne Wenn und Aber geboten – in vollem Wissen darum, dass nichts ohne ein Vorher erklärbar ist. Der in seiner Brutalität unfassbare Überfall der Hamas-Terroristen auf verschiedene Kibbuzim und Ortschaften im Grenzgebiet zum Gaza-Streifen am 7. Oktober 2023 mit über 1.400 Toten und unendlichem Leid ist trauriger Anlass, ohne jede Einschränkung diese ungeheure kriegerische Aggression gegen die Bevölkerung Israels zu verurteilen.

Zugleich ist der Regierung Israels zuzubilligen, sich gegen den Hamas-Terror zu wehren. Dieser Gewaltexzess der Hamas, einschließlich der Raketenangriffe und Geiselnahmen, kann in nichts eine Rechtfertigung finden, kann und darf auch nicht aufgerechnet werden mit militärischen Aktionen Israels bzw. abgeleitet werden von einer – wie auch immer – verfehlten Politik Israels gegen das palästinensische Volk.

Darum ist jetzt eines unerlässlich: Gerade Deutschland, d. h. die Bürger/-innen Deutschlands, Deutschlands Institutionen, Parteien, Verbände, Vereine, Kirchen und Religionsgemeinschaften stehen aufgrund der von Deutschland zu verantwortenden Vernichtung jüdischen Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus in einem hohen Maß in der Pflicht,

  • sich für das Existenzrecht des Staates Israel einzusetzen,
  • den Schutz, d. h. ein angstfreies Leben der jüdischen Mitbürger/-innen und ihrer Einrichtungen in Deutschland zu gewährleisten,
  • sich jeder Form von Antisemitismus zu erwehren.

Diese drei Aufgaben dürfen durch keine noch so berechtigte Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern eine Einschränkung erfahren. Das bedeutet, dass sich die deutsche Bundesregierung in der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen und in der arabischen wie islamisch geprägten Welt dafür einsetzen muss, dass das Existenzrecht Israels anerkannt und nicht weiter infrage gestellt wird. Ohne ein solches, global wirkendes Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und damit auch zum Recht jüdischen Lebens an jedem Ort auf diesem Erdball wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben können.

Mit dem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels ist ausdrücklich nicht ausgeschlossen, die Politik der Regierungen Israels sehr kritisch zu betrachten. Im Gegenteil: Niemandem kann und darf verwehrt werden, sich sehr kritisch mit der Politik der Regierung Israels auseinanderzusetzen. Niemandem kann und darf verwehrt werden, auch jetzt für eine Ein-Staat- oder Zwei-Staaten-Lösung im Israel-Palästina-Konflikt einzutreten und die dafür notwendigen Bedingungen einzuklagen.

Niemandem kann und darf verwehrt werden, die innenpolitische Situation Israels, ihr Abdriften nach rechts, kritisch zu kommentieren. Nur: Das darf niemals dazu führen, geschweige denn dass gerechtfertigt wird, dass bei uns Bürger/-innen jüdischen Glaubens und Einrichtungen jüdischen Lebens wie Synagogen, Kitas bedroht und tätlich angegriffen werden und dass Terror gutgeheißen wird.

Durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel ist weltweit eine bedrohliche Situation entstanden. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten können jederzeit eskalieren. In Deutschland müssen wir besonders wachsam sein. Denn der Hass auf Israel, der leider unter Migrant/-innen aus arabischen Ländern vorhanden ist und in zu vielen islamischen Gemeinden angeheizt wird, kann sich schnell verbinden mit dem alltäglichen Antisemitismus und mit dem leider nicht nur von Rechtsextremisten geschürten Zorn auf Geflüchtete islamischen Glaubens.

Das ist eine mehr als gefährliche Gemengelage. Hier gilt es eine klare Haltung einzunehmen, die sich an der freiheitlichen Demokratie, an den Grundwerten unserer Verfassung, an der multikulturellen und multireligiösen Wirklichkeit, an der besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt orientiert. Niemals aber dürfen wir uns in der kämpferischen Solidarität mit denen, deren Existenz jetzt bedroht ist, von der religiös-ideologischen Propaganda einer Hamas und ihrer Praxis des Terrors anstecken lassen.

Der Publizist Carl Amery (1922–2005) hat in seinem Buch „Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts“ (1998) die Frage aufgeworfen, die auch heute von großer Bedeutung ist und viele Menschen umtreibt: „Müssen wir Unmenschen werden, um die Menschheit zu retten?“ Es ist die Frage danach, wie wir mit den Krisen dieser Welt fertig werden und welchen Preis wir bereit sind, dafür zu zahlen.

Amery betont, dass Hitler die Frage eindeutig mit Ja beantwortet hat, Stalin, Mao Zedong, Pol Pot auch. Diese Bejahung wohnt sicher auch den Hamas-Terroristen (wie vielen Autokraten) inne. Nach Amery beinhaltet dieses Ja gleichzeitig ein Nein zur „jüdisch-humanistischen Botschaft schlechthin“, also zur „Botschaft von der Friedfertigkeit, von der Erhaltung des schwachen und gekränkten Lebens, von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses.“

Das also ist unsere Aufgabe: der Verneinung dieser Botschaft zu widerstehen und ihre Bejahung zu leben – in Solidarität mit denen, welche diese biblische Botschaft seit Jahrtausenden tradieren.

***

P.S. Die politische Auseinandersetzung um die Positionierung im Israel-Palästina-Konflikt begleitet mich seit über 50 Jahren. 1973/74 war ich AStA-Vorsitzender an der Universität Heidelberg. Wenige Tage nach Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs am 7. Oktober 1973 kam es im Studentenparlament zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die kommunistischen Hochschulgruppen (KHG und KBW) brachten eine Resolution ein, mit der die Solidarität mit der PLO in ihrem Kampf gegen den – wie es damals hieß – zionistischen und US-Imperialismus zum Ausdruck gebracht werden sollte.

In der Diskussion wehrte ich mich vehement gegen diese Einseitigkeit und vertrat den Standpunkt, dass es am Existenzrecht Israels keinen Zweifel geben dürfe. Das Fatale: Einige Studentenvertreter/-innen unserer Hochschulgruppe (Hopoko, linksliberal), die die Mehrheit im Parlament hatte, stimmten der Resolution der kommunistischen Gruppen zu, sodass diese mehrheitlich beschlossen wurde.

Eigentlich wollte ich sofort zurücktreten, denn ich hielt den Beschluss für nicht hinnehmbar. Davon haben mich aber Mitstreiter/-innen abgehalten. Ich habe dann erklärt, dass ich die inhaltliche Ausrichtung dieser Resolution für falsch halte und ihr nicht folgen werde.

Ähnliches erlebte ich 2006 bei einer Kundgebung anlässlich des Israel-Libanon-Krieges vor der Thomaskirche. An der Kundgebung nahmen einige Hundert Menschen teil, die meisten waren Migrant/-innen aus dem arabischen Raum. Ich war gebeten worden, eine Rede zu halten. Diese löste damals heftige Proteste und Widerspruch aus – vor allem, weil ich die Anerkennung des Existenzrechts Israels als eine Grundbedingung für einen Friedensprozess im Nahen Osten genannt habe. Diese Auseinandersetzung müssen wir offensiv führen.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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