Am vergangenen Sonntag, dem 8. Oktober 2023, wurde im Gottesdienst in der Thomaskirche die Kantate „In allen meinen Taten“ (BWV 97) aufgeführt. Die textliche Grundlage dieses Werkes von Johann Sebastian Bach ist das gleichnamige, neunstrophige Lied von Paul Fleming (1609–1640). Paul Fleming dichtete es 1633, mitten in den Schrecknissen des 30-jährigen Krieges und vor einer mehrjährigen Reise, die ihn u. a. nach Reval, Moskau und Isfahan führte.

Mit der ersten Strophe legt er seine Grundhaltung offen, mit der er beabsichtigt, allen Herausforderungen und Verwerfungen des Lebens zu begegnen:

In allen meinen Taten
Lass ich den Höchsten raten,
der alles kann und hat.
Er muss zu allen Dingen
solls anders wohl gelingen,
selbst geben Rat und Tat.

Erstaunlich: Fleming, ein junger Arzt und Lyriker, macht für alles, was er zu tun beabsichtigt und was ihm widerfährt, nicht äußere Verhältnisse wie Obrigkeit, Eliten, Krieg oder das Schicksal, also andere verantwortlich. Vielmehr vertraut er sich ganz Gott an. Von ihm erwartet er Hilfe, aber auch Trost und Stärkung in allen Lebenslagen. Diese Haltung – so die Grundbotschaft des Liedes – macht ihn handlungs- und widerstandsfähig.

Gut, dass ich die Klänge der wunderbaren Kantate noch im Ohr und die Gedanken, die ich dazu in der Predigt geäußert habe, im Kopf hatte, als abends die Ergebnisse der Landtagswahlen in Bayern und Hessen veröffentlicht und das ganze Ausmaß der kriegerischen Terroraktionen der Hamas gegen Israel offenbar wurde. Was Letzteres angeht, so zeigt sich auf erschreckende Weise, dass militante Judenfeindschaft nach wie vor in aller Welt dazu dient, die entsetzlichsten Gewaltexzesse gegen Menschen jüdischen Glaubens und gegen Bürger:innen Israels in Gang zu setzen und zu rechtfertigen.

Allein deswegen muss dem allgegenwärtigen Antisemitismus klar und unmissverständlich entgegengetreten werden – insbesondere dann, wenn er dazu dient, rassistisch motivierte Verbrechen wie den Holocaust zu verharmlosen bzw. die Politik Israels damit gleichzusetzen. Dies alles läuft nach dem im rechtsextremistischen Kreisen gepflegten und leider in zu vielen Köpfen marodierenden Motto: Die Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern auch nicht besser als die Nazis.

Vor diesem Hintergrund sind die Wahlergebnisse für die rechtsextreme AfD in Bayern und in Hessen mehr als dramatisch. Denn alle Wahlanalysen deuten darauf hin, dass die AfD nicht notgedrungen mangels Alternativen, nicht aus Protest, sondern aus Überzeugung gewählt wird. Damit wird unterstrichen: Die Ursache für den Wahlerfolg der AfD liegt weniger an dem Zustand der demokratischen Parteien und einer mangelhaften Politik der Ampel-Koalition, sondern vor allem an der politischen Einstellung der AfD-Wähler/-innen. Sie wählen die AfD,

  • weil diese rechtsnationalistische Partei Deutschland von Ausländer/-innen (und nicht nur von Geflüchteten) freihalten will;
  • weil sie Schluss machen will mit dem Genderkram und mit allem, was die LTBG-Bewegung ausmacht;
  • weil sie den Klimawandel leugnet und darum keinen Handlungsbedarf sieht im Blick auf erneuerbare Energien und Mobilität;
  • weil sie sich mit dem verbrecherischen Autokraten Putin über die Ukraine verständigen will,
  • weil sie das demokratische System durch ein autokratisches ersetzen will und alles einkassieren wird, was ihr derzeit die Existenz als Partei ermöglicht;
  • und auch, weil die AfD die Zeit des nationalsozialistischen Terrors und des Holocaust „normalisiert“.

Das alles nehmen die Wähler/-innen der AfD mit ihrer Stimmabgabe nicht nur billigend in Kauf. Es entspricht weitgehend ihrer derzeitigen Überzeugung bzw. ihrem sehr Ich-bezogenen Gemütszustand. Wie das zu erklären ist? Die vielfältigen Krisen setzen vielen Menschen zu. Sie haben eine nicht näher zu definierende Angst, ihren Lebensstandard und die Übersicht zu verlieren.

Da schlagen schrille, medial aufgeblasene Warnrufe wie „Wir sind am Limit“ (so als ob morgen der Kollaps droht) oder „Deindustrialisierung“ (so als ob morgen Deutschland das Armenhaus Europas wird) Angstschneisen in verunsicherte Seelen und lösen Schreckensszenarien aus. Und all das, obwohl ein großer Teil der AfD-Wähler/-innen derzeit nichts zu befürchten hat, sie auf ihrem Dach eine Fotovoltaikanlage installiert haben und von den im Ort oder Stadtteil lebenden Geflüchteten wenig bis gar nichts mitbekommen.

Es sei denn, sie empfangen ihre Online-Bestellung durch einen Syrer oder Afghanen oder werden von einem Tunesier im Linienbus chauffiert (aber haben wir nicht genug deutsche Erwerbslose, die das machen können?)

Was also hat sich am Sonntag ereignet und was droht uns im kommenden Jahr in Sachsen, Brandenburg und Thüringen und bei den Wahlen zum Europaparlament? Immer mehr wird offenbar, dass zu viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, die Krisen, die uns Menschen nicht erst seit heute im Alltag begleiten, einzuordnen und ihnen mit dem zu begegnen, worüber ein Paul Fleming verfügte: ein getröstetes Gottvertrauen. Dieses Defizit macht sich umso bemerkbarer, als wir nicht mehr in der Lage sind, alle Krisen auf materiellem Wege abzufedern.

Darum kommt es darauf an, dass wir Menschen uns für das persönliche wie für das gesellschaftliche Leben ein Krisenmanagement aneignen, das auf Vertrauen und auf demokratischen Grundwerten beruht. Denn nur so werden wir davor bewahrt, für das, was Schwierigkeiten bereitet, Sündenböcke zu suchen, Feindbilder zu fabrizieren, nationalistische „Lösungen“ anzubieten und schließlich für ein „Linsengericht“ *, das eine Partei wie die AfD den Außersichgeratenen auftischt, alles aufs Spiel zu setzen. Sogar die Grundwerte unserer Verfassung, ohne die ein menschenwürdiges Zusammenleben und ein dauerhafter Frieden nicht möglich sind.

Daher plädiere ich dafür, der AfD in zweifacher Weise entgegenzutreten:

  • Zum einen gilt es, ohne jedes Zurückweichen die Grundwerte der Verfassung zu leben und zu verteidigen. Hier gilt es insbesondere, der schamlosen Umwertung der Werte entgegenzutreten, Wenn die AfD sich die Bedingungen der freiheitlichen Demokratie zunutze macht, um ihren Autokratismus zu implementieren.
  • Zum andern haben wir – und das sollte die Hauptaufgabe der Kirche sein – durch Gottvertrauen den Menschen den Rücken und sie in ihrem Ich zu stärken und sie widerstandsfähig zu machen gegen die Versuchungen der einfachen Lösungen, die immer auf Kosten des und der anderen gehen. Zu denen auch ich morgen gehören kann.

Das Lied von Paul Fleming endet mit den Zeilen: „So sei nun Seele deine/und traue dem alleine/der dich erschaffen hat“ – was soviel heißt wie: Sei ganz du selbst. Ein solches Selbstbewusstsein wird dann politische Wachheit und verantwortliches Leben ermöglichen, wenn es verbunden wird mit dem Vertrauen zu dem, dem wir das Leben verdanken.

Zugegeben: Das ist eine Glaubensüberzeugung, der nicht jede/-r folgen kann, aber eine mit weitreichenden Folgen im Kampf um Demokratie, Menschenwürde, kulturelle Vielfalt und klare Kante gegen die AfD.

* Wahrscheinlich können nur noch wenige etwas mit der Redewendung „für ein Linsengericht etwas Wertvolles hergeben“ anfangen. Hintergrund ist eine biblische Erzählung (Die Bibel: 1. Mose 25): Jakob kauft seinem hungrigen und erschöpften Zwillingsbruder Esau, der der Erstgeborene war, für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht (Erbschaft) ab.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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