Als am 02. Oktober 2000 ein Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt wurde, rief zwei Tage später der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf. In Folge dieses Aufrufs kam es an vielen Orten in Deutschland zu Demonstrationen, Lichterketten und weiteren Aktionen. Am 9. November 2000 fand dann am Brandenburger Tor in Berlin eine große Kundgebung statt, mit 200.000 Teilnehmer/-innen.

Die anfängliche Vermutung, dass die möglichen Urheber des Brandanschlags aus dem Bereich des organisierten Rechtsextremismus stammen, bestätigte sich nicht. Als Täter wurden ein aus Marokko stammender deutscher Staatsbürger und ein in Deutschland lebender Palästinenser überführt. Sie gaben an, dass der Anschlag auf die Synagoge ein Racheakt für einen in Gaza durch die israelische Armee erschossenen Jugendlichen sei.

Damit wurde deutlich, dass sich der militante Antisemitismus nicht nur bei rechtsextremen Gruppierungen in Gewaltakten gegen jüdische Einrichtungen entlädt, sondern auch von Migrant/-innen insbesondere aus dem arabischen Raum praktiziert wird – was historisch gesehen nicht so überraschend ist, wenn man an die nachhaltigen Auswirkungen des nationalsozialistischen Rassismus in der arabischen Welt denkt.

Warum aber ließen sich im Jahr 2000 nicht nur in Berlin Hunderttausende Menschen mobilisieren, um ein Zeichen gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus zu setzen, während am vergangenen Sonntag nur 10.000 Menschen den Weg zum Brandenburger Tor fanden? Und das, obwohl zu der Kundgebung alle demokratischen Parteien, die wichtigsten Verbände und Gewerkschaften, die großen Kirchen aufgerufen hatten – Institutionen, die über Millionen Mitglieder verfügen?

Offensichtlich hat sich die gesellschaftspolitische Großwetterlage im Verlauf der letzten über 20 Jahre gewaltig verändert. Offensichtlich erreichen wir („wir“ benutze ich an dieser Stelle ganz bewusst, denn ich bin ein Teil dieser Institutionen) viele Mitbürger/-innen nicht mehr – vor allem dann nicht, wenn es um die Verteidigung der Grundwerte unseres Zusammenlebens geht.

Offensichtlich ist vielen Bürger/-innen das Gefühl dafür abhandengekommen, was in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft akzeptabel ist und was nicht. Offensichtlich ziehen sich immer mehr Menschen voller Misstrauen gegenüber denen, die in ihren Augen „das Sagen“ haben, in ihre kleine Welt zurück, weil sie die Unübersichtlichkeit der globalen Zusammenhänge nicht mehr ertragen können und in ihnen – gesagt und ungesagt – nach wie vor das „Weltjudentum“ wittern.

Offensichtlich kann sich nun der immer vorhandene „deutsche“ Antisemitismus hinter dem arabisch-islamischen verstecken.* Offensichtlich geben sich immer mehr Menschen der Illusion hin, dass sich mit ausgrenzender Überschaubarkeit die Probleme von selbst erledigen (das erinnert an das Kind, dass sich die Augen zuhält und denkt, dass das, was ich nicht sehe, auch nicht existent ist).

Die Folgen dieser Haltung sind unübersehbar: Man erwartet von der eigenen Regierung und den öffentlichen Institutionen, dass diese bitte den Rückzug ins Private absichern mögen, aber von allen Regulierungen und Beanspruchungen des privaten Lebens die Finger lassen sollen. Eine widersprüchliche Erwartung, die nicht nur zu Enttäuschungen führt, sondern Grundhaltungen wie Verantwortung für das Gemeinwohl verkümmern lässt.

Was uns das alles lehrt? Politische Strömungen und werteorientierte Institutionen, die vom verantwortlichen Mittun ihrer Mitglieder in der Balance von Freiheit und Bindung leben, haben es derzeit schwer, Menschen an sich zu binden und zu mobilisieren – während Parteien wie die AfD, die Schuldzuweisung, Sündenbock-Ideologie und Ausgrenzung alles Störenden zum Programm erheben, Zulauf, zumindest aber Zustimmung erfahren. Nun gehen sie daran, den Antisemitismus für ihre Propaganda gegen Geflüchtete und Migrant/-innen zu vereinnahmen.

Was auf der Strecke bleibt, ist nicht nur der Anstand, nicht nur Engagement für das Gemeinwesen, sondern auch der kritische Diskurs, das Bemühen um Verständigung, die Achtung unterschiedlicher Lebensentwürfe und die Akzeptanz von Widersprüchlichkeiten. Innerhalb einer Generation ist unsere Gesellschaft nicht nur diverser geworden. Sie hat vor allem Abschied genommen von vielen Selbstverständlichkeiten und Konsens bildenden Grundüberzeugungen.

Diese werden im Sekundentakt, insbesondere in den digitalen Netzwerken, zerschossen und durchlöchert. Die Herausforderung, vor der wir stehen: Wie lässt sich der entstandene Flickenteppich als ein Ganzes verstehen, ohne dass er unter einer braunen Folie verschimmelt? Wo finden wir den roten Faden, mit dem Unterschiedlichkeit zusammengehalten werden kann und Unübersichtlichkeit nicht zur Verblendung führt, das Heil im Unheil finden zu wollen?

Können wir Vielfalt und Vertrauen in so in Einklang bringen, dass Menschen Herausforderungen und Krisen nicht als Bedrohung ihrer Existenz, sondern als Bewährung der Grundwerte erfahren? Verordnen lässt sich das nicht. Aber jeder und jede kann dazu beitragen, dass Menschen darin gestärkt werden, in den Verwerfungen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens den Keim des Guten zu entdecken, ohne andere zu Sündenböcken zu erklären.

Das ist nicht nur Ausgangspunkt und Grundlage jedes Anstands, es ist die säkulare Erklärung dessen, was wir Juden, Christen und Moslems Gnade Gottes nennen.

* Eine Säule des militanten Antisemitismus ist die in allen Variationen verbreitete Mär: Gäbe es den Staat Israel nicht, gäbe es keine Probleme im Nahen Osten. Also ist Israel die Ursache alles Übels.

Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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