Landauf, landab melden sich derzeit vor allem konservative Politiker und Vertreter von wirtschaftsnahen Interessengruppen zu Wort, die den Niedergang Deutschlands beschwören. René Pfister zum Beispiel, der in einer „Spiegel“-Kolumne am 27. August das ganz große Jammerbild aufzog: „Miese Konjunktur, sinkende Reallöhne/Ärmer werden mit Olaf Scholz“.
„Deutschland steckt in der tiefsten ökonomischen Krise seit Jahrzehnten, doch der Kanzler ist rundum mit sich zufrieden“, jammerte René Pfister da. „Warum lassen es sich die Deutschen gefallen, so miserabel regiert zu werden?“
Eigentlich ist er derzeit „Spiegel“-Büroleiter in Washington, D.C., jammert also aus atlantischer Distanz. Aber nicht einmal das Bundesamt für Statistik bestätigt dieses Gejammer aus erlauchten Kreisen. Im Gegenteil: Dessen jüngste Meldung bestätigt, dass sich die deutsche Wirtschaft nach den Turbulenzen 2022 wieder stabilisiert hat.
„Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im 2. Quartal 2023 gegenüber dem 1. Quartal 2023 – preis-, saison- und kalenderbereinigt – nicht weiter gesunken (0,0 %)“, teilte das Bundesamt für Statistik am 25. August mit und bestätigte damit das Ergebnis der Schnellmeldung vom 28. Juli 2023.
„Nach den leichten Rückgängen in den beiden Vorquartalen hat sich die deutsche Wirtschaft im Frühjahr stabilisiert“, ließ sich Ruth Brand zitieren, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes. Im 4. Quartal 2022 hatte die Wirtschaftsleistung um 0,4 % und im 1. Quartal 2023 um 0,1 % gegenüber den jeweiligen Vorquartalen abgenommen.
Kranker alter Mann?
Der DIW-Präsident Marcel Fratzscher spielt dieses Angstmacherspiel einer konservativen Elite, die das Land gleich mal mit geballter medialer Kraft wieder zum „kranken Mann Europas“ erklären will, nicht mit.
Am 30. August gab er aus gegebenen Anlass der taz ein Interview, in dem er eine deutlich nüchternere Sicht auf die Wirtschaftsentwicklung vorlegte.
„Deutschland geht es wirtschaftlich den Umständen entsprechend gut“, sagte er. „Es leidet zwar stärker als seine Nachbarn unter der Energiepreiskrise, weil es eine relativ offene Volkswirtschaft ist und abhängiger von russischem Gas sowie Öl war als andere. Es gibt aber keinen Grund, von einer drohenden Deindustrialisierung zu sprechen, wie das einige Politiker tun.“
Ein CDU-Chef Friedrich Merz zum Beispiel, der Ende Juli einfach behauptete: „Wir erleben stattdessen einen schleichenden Prozess der Deindustrialisierung unseres Landes. (…) Hier passiert im Augenblick etwas, was möglicherweise nicht mehr umkehrbar ist. Darauf muss die Bundesregierung jetzt reagieren.“ Die entsprechende Meldung von dpa brachte z. B. „Die Zeit“.
Die Deutschen werden faul?
Und da Merz gerade dabei war, von der amtierenden Regierung eine Wirtschaftswende zu fordern (welche die CDU-Regierung zuvor 16 Jahre lang einfach nicht hinbekommen hatte), legte er am 31. August gleich noch nach und unterstellte den Deutschen fehlende Leistungsbereitschaft.
„Wir müssen über die grundsätzliche Haltung in unserem Land reden: Sind wir noch bereit, uns für unseren Wohlstand und unsere Alterseinkommen anzustrengen“, diktierte er den Medien seine neue Einsicht. Was sicher bei den Millionen Niedriglöhnern, die nicht mal auf eine auskömmliche Rente rechnen können, ganz besonders gut angekommen sein dürfte. Aber die sind ja nicht schuld, so Merz.
„Deutschland habe eine schlechte Regierung, die Leistung bestrafe“, zitiert der „Spiegel“ nach dpa. Merz: „Wer den Eindruck bekommt, dass es keinen Unterschied macht, ob er mehr oder weniger arbeitet, wird sich weniger anstrengen.“
Haben die Deutschen also einfach mit Antritt der Ampelregierung am 8. Dezember 2021 das Arbeiten eingestellt?
Logisch ist an Merz’ Aussagen nichts. Denn das System, in dem die Deutschen arbeiten, ist dasselbe, das es auch unter CDU-Kanzlerin Angela Merkel gab. War also die CDU schuld, dass die Deutschen sich das mit dem Anstrengen mittlerweile überlegen?
Alles nur noch Verlierer?
Auf die Schnapsidee mit der Leistungsverweigerung kam Merz ausgerechnet nach dem Ausscheiden der deutschen Frauen in der Vorrunde der Fußball-WM. Da war er sicher nicht der Einzige, der felsenfest daran glaubte, dass die Deutschen – wegen ihrer tollen Leistungsbereitschaft – Medaillenränge bei Weltsportereignissen einfach verdient hätten.
Eine Einbildung, die aber mit der Realität nichts zu tun hat.
Christian Spillner hat in einem Beitrag für die „Zeit“ diese falsche Vorstellung von der Welt einmal richtig sachkundig auseinander genommen: „Haben die Deutschen das Gewinnen verlernt?“
Gewinnen ist schön. Aber so langsam müssen auch die deutschen Sportkommentatoren akzeptieren lernen, dass die anderen Länder nicht schlafen und schon gar nicht ewig auf dem Stand „rückständiger“ Entwicklungsländer bleiben. Im Gegenteil: Gerade in populären Sportarten haben sie überall aufgeholt und zeigen, dass kein Land im hohen Norden das Gewinnen für sich gepachtet hat. Von der Exzellenz in den deutschen Nachbarländern ganz zu schweigen, egal, ob es um Fußball oder Leichtathletik geht.
Die Zeit, dass bräsige Moderatoren einfach so tun konnten, als müssten deutsche Athleten quasi aus Geburtsrecht auf dem Treppchen stehen, sind vorbei. Genau hier beginnt nämlich Wettbewerb. Richtiger Wettbewerb, bei dem auch andere Länder immer öfter mal die Gewinner sein werden.
Probleme mit langem Vorlauf
Und die deutsche Wirtschaft? Welcher doch der selbst nicht wirklich unabhängige Internationale Währungsfonds eine Rezession in diesem Jahr von minus 0,3 Prozent prognostiziert?
„Nichtsdestotrotz ist Deutschland eine starke Volkswirtschaft“, sagt Marcel Fratzscher im taz-Interview. „In den 2010er Jahren hatte es ein relativ großes Wirtschaftswachstum, einen massiven Beschäftigungsaufbau, und die Industrieunternehmen konnten ihre Marktanteile weltweit ausbauen. Insofern geht es dem Land verhältnismäßig gut. Die Probleme sind weniger kurzfristiger, sondern vielmehr langfristiger Natur.“
Die haben nämlich mit einer Umstellung der kompletten Energiebasis zu tun und einem Ende der Wettbewerbsfähigkeit für die fossilen Wirtschaftsteile (die derzeit naturgegeben am lautesten klagen).
„Wir müssen die Struktur der deutschen Volkswirtschaft grundlegend verändern“, sagt Fratzscher. „Viele große deutsche Industriekonzerne haben in den vergangenen Jahren die Transformation verschlafen. Und zwar sowohl in Bezug auf Klimawandel und Energiewende als auch auf viele Zukunftstechnologien im Rahmen der Digitalisierung.“
In diese Teile der Wirtschaft muss jetzt investiert werden. Und zwar unter gewaltigem Druck, weil zuletzt wieder 16 Jahre regelrecht vertrödelt wurden. Man hat es also auch mit einem selbstgemachten Trödeleffekt zu tun. Aber wer wird über die 16 Trödeljahre sprechen, wenn man der aktuellen Regierung „abnehmende Wirtschaftsleistung“, so Merz, vorwirft.
Und dann überrascht es auch nicht, dass er einen uralten Spruch wieder ausgräbt: „Wir müssen also mehr über Leistungsgerechtigkeit reden. (…) Uns geht es darum, dass diejenigen belohnt und nicht bestraft werden, die sich mehr anstrengen wollen.“
Das ist der viel geliebte Sound der 1990er Jahre.
Darüber würden sich sicher viele Rentenbeitragszahler freuen, die sich jetzt schon darauf vorbereiten, beim Staat um eine Mindestrente betteln zu müssen. Da haben die ganzen Überstunden – meist schlecht bezahlt – wohl doch nichts genutzt.
Nur dass es ausgerechnet die Ampelregierung gewesen sein soll, die in Deutschland in nur anderthalb Jahren das Arbeitsethos kaputt gemacht haben sollte, das darf man bezweifeln.
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