Zu Beginn des ARD-Sommerinterviews mit der Co-Vorsitzenden der AfD, Alice Weidel, am 10. September 2023 reichte der Moderator Matthias DeiรŸ ihr ein Foto, das ihren Vorsitz-Kollegen Tino Chrupalla (AfD) auf dem Empfang der russischen Botschaft aus Anlass des Sieges der damaligen Sowjetunion รผber das Nazi-Deutschland am 9. Mai 2023 zeigt. Das Foto in der Hand begrรผndete Alice Weidel, warum sie โ€“ im Gegensatz zu Chrupalla โ€“ nicht an dem Empfang teilgenommen hat:

Ich habe natรผrlich fรผr mich entschieden โ€“ das ist eine persรถnliche Entscheidung gewesen โ€“ aus politischen Grรผnden daran nicht teilzunehmen. Also hier die Niederlage des eigenen Landes zu befeiern, mit einer ehemaligen Besatzungsmacht, das ist etwas, wo ich fรผr mich persรถnlich entschieden habe โ€“ auch mit der Fluchtgeschichte meines Vaters โ€“ daran nicht teilzunehmen.

Mit dieser Aussage setzte Alice Weidel ganz gezielt am Anfang ihres Interviews ein erschreckendes Signal: Der 8./9. Mai ist in ihren Augen kein Tag zum Feiern, schon gar nicht kann er als โ€žTag der Befreiungโ€œ begangen werden. Der 8. Mai 1945 ist fรผr Alice Weidel ein Tag der โ€žNiederlage des eigenen Landesโ€œ โ€“ also ein Tag, an dem betrauert werden sollte, dass Deutschland militรคrisch besiegt und vom Nazi-Terror befreit wurde? Nein, das Fragezeichen gehรถrt da eigentlich nicht hin.

Denn Alice Weidel ist nicht misszuverstehen. So hat sie es so gemeint. Und damit hat sie die Umdeutung des nationalsozialistischen Terrorregimes und des Dritten Reiches vollzogen, die von ihrem Vorgรคnger Alexander Gauland (โ€žVogelschiss der Geschichteโ€œ) eingeleitet und von Bjรถrn Hรถcke (AfD) tรคglich befeuert wird. Man erinnere sich: 2017 hat Hรถcke die Rede von Bundesprรคsident Richard von Weizsรคcker am 8. Mai 1985, in der dieser vom โ€žTag der Befreiungโ€œ sprach, als โ€žRede gegen das Volkโ€œ bezeichnet. In diesem Jahr deutete Hรถcke in Weimar am 8. Mai 2023 den 8. Mai als โ€žEnde des Hitlerismusโ€œ, nicht etwa als Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Und da die diabolische Umwertung und -deutung schon immer zum strategischen Instrumentarium des Nationalsozialismus und also auch zur AfD gehรถrt, rief Hรถcke noch aus: โ€žNie wieder Faschismus. Nie wieder Diktatur.โ€œ โ€“ um seinen Anhรคngern vor allem eines zu signalisieren: Wir leben heute in einer Diktatur, im Faschismus (er sprach vom โ€žDigital-Faschismusโ€œ).

Das Dramatische vom Sonntagabend aber war nicht, dass Alice Weidel in schonungslos-knapper Offenheit die nationalistische Programmatik der AfD ausbreiten konnte. Das Dramatische war die Nicht-Reaktion von Matthias DeiรŸ und der nachfolgenden Berichterstattung รผber dieses Interview. Da war nรคmlich nur von einem angeblichen Gegensatz zwischen Chrupalla und Weidel die Rede โ€“ was zeigt, wie blind inzwischen der Tunnelblick auf parteipolitische Rรคnkespiele fรผr die tatsรคchlichen Vorgรคnge macht. Ob Chrupalla und Weidel sich beharken, ist ziemlich uninteressant.

Aber dass Alice Weidel ein Foto nutzen kann, um die extremistische Programmatik ihrer Partei zu kommunizieren, und dass das ohne jede Reaktion bleibt, das ist alarmierend!

Wenn in Medien weiter so blind, so ahnungslos, so leichtfertig auf AfD-Politiker/-innen reagiert wird, wenn Journalisten wie Matthias DeiรŸ weiter politisch so unbedarft den Rechtsnationalisten ihre Narrative durchgehen lassen, darf man sich รผber nichts mehr wundern. Allerdings ist auch zu fragen: Wo bleibt der Aufschrei in den anderen Medien?* Wo der Einspruch der demokratischen Parteien gegen Alice Weidel und die AfD? Wo bleibt die breit angelegte Debatte?

Und wo bleiben die Verbindungslinien zwischen geistesgegenwรคrtiger Kritik an der AfD und den politischen Angeboten der demokratischen Parteien und der Zivilgesellschaft an die, die jetzt noch mit dem irren Gedanken spielen, den nationalistischen Hasardeuren der AfD ihre Stimme zu geben? Wie wichtig gerade Letzteres ist, hat sich auch gestern gezeigt: In Nordhausen hat der AfD-Kandidat mit 42,5 % die meisten Stimmen im 1. Wahlgang der Oberbรผrgermeisterwahl erhalten โ€ฆ

*Eine der wenigen Ausnahmen war hier Christoph Schwennicke auf t-online.de.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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