War’s das nun mit der sog. Flugblatt-Affäre des Hubert Aiwanger? Vielleicht ja – es sei denn, man stellt den Vorgang in einen ihm angemessenen Kontext. 2010 erschien das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“. Dieses wurde von erstaunlich vielen Medien zum Bestseller gehypt. In meinem Weihnachtsbrief 2010/11 machte ich mir Gedanken darüber, welche gesellschaftspolitischen Signale von einem Buch ausgehen, das eigentlich nur als „zynisch, überflüssig und nicht der Rede wert“ betrachtet werden kann.
Gefährlich allerdings sind für mich die Beweggründe eines großen Verlages und verdächtig vieler Medien, ein solches Buch auf den Markt zu werfen und zu einem Großereignis zu pushen. Offensichtlich sollen menschenverachtende Pauschalurteile, eugenische und nationalistische Diktionen, die mit den Grundwerten unseres Glaubens und mit einem respektvollen Umgang auch mit schwierigen Menschen nicht vereinbar sind, salonfähig gemacht werden. Vor allem sollen moralisch gebundene Grundpositionen als für Bereinigungsstrategien hinderlich diskreditiert werden.
Also werden diejenigen, die sich illusionslos und unverdrossen der Integrationsaufgabe stellen, mit einer verächtlichen Überheblichkeit als „Gutmenschen“ verhöhnt – wobei ich es als einen Tiefpunkt in der politischen Debatte betrachte, wenn der Begriff „guter Mensch“ zum Schimpfwort geriert. Und ebenso frage ich mich, wieso derzeit so leichtfertig vom „Scheitern der Integration“ gesprochen wird. Dabei ist in unserem Land das Gelingen von Integration die Regel – auch dank des Integrationswillens vieler Ausländer/-innen.
Doch eine solche Sicht können die nicht gebrauchen, die jetzt die Zeit gekommen sehen, sich von gesellschaftlichem Ballast zu „befreien“. Mehr denn je stehen wir aber vor der Aufgabe, uns so verschiedene Menschen als Geschöpfe Gottes anzuerkennen und uns gegenseitig abzuverlangen, diesem Geschenk gerecht zu werden.
Die hier beschriebene Diskursverschiebung nach rechts hat sich in den vergangenen 13 Jahren dramatisch verschärft: als 2015ff. Hunderttausende Geflüchtete zuwanderten, während der Corona-Pandemie, in einer Zeit multipler Krisen (Inflation, Ukraine-Krieg, Energiewende, Klimawandel). Politische Entwicklungen, die genügend Einflugschneisen für diejenigen öffnen, die den Systemwechsel wollen und darum Ressentiments gegen missliebige Menschengruppen schüren und Sündenbockmentalität schüren.
Insofern ist es wenig rätselhaft, warum die rechtsextreme AfD derzeit ein Umfragehoch erlebt und warum die Auseinandersetzung um den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger so verläuft, wie es sich jetzt abzeichnet: gezwungenermaßen zu bereuen, mit Äußerungen von vor 35 Jahren „Gefühle“ anderer verletzt zu haben – um dann ganz schnell weiterzumachen wie bisher, nämlich nicht das besagte Flugblatt, sondern die angebliche Pressekampagne, durch die das „einschneidende Erlebnis“* aus dem Jahr 1987 an die Öffentlichkeit kam, als „schmutziges Machwerk“ zu bezeichnen.
Damit unterstreicht nicht nur ein Hubert Aiwanger: Die 2010 gezielt initiierte Diskursverschiebung begann nicht in einem extremistischen Lager, sondern in den Wohnzimmern (und Amtsstuben) wohliger Bürgerlichkeit unserer Gesellschaft – so wie sich der Antisemitismus, Rassismus und die Demokratieverachtung vor allem in der sog. Mitte der Gesellschaft breitmachen, so wie auch die AfD einst als „Professorenpartei“ an den Start ging (doch ihr Weg in den Rechtsextremismus war schon durch Bernd Lucke, Frauke Petri, Jörg Meuthen vorgezeichnet).
Insofern ist es wenig überraschend, dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz im Bierzelt des Gillamoos (und zuvor im Sauerland und thüringischen Apolda) mottomäßig ausruft: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, sondern …“ Ach so, jetzt werden Bezirke Deutschlands zum Ausland erklärt, in denen viele Migrant/-innen leben, kulturelle Vielfalt herrscht und soziale Konflikte aufbrechen. Die gehören also nicht zu Deutschland – es sei denn, sie passen sich der Kultur bayerischer Volkstümlichkeit an. Was damit bezweckt wird, ist klar: eine Trennungslinie zwischen „die“ und „wir“, genau das, was jede Integration scheitern lässt und sich als Baustein für Nationalismus bestens eignet.
Kein Wunder also, dass in einem solchen ideologischen Umfeld ein Hubert Aiwanger nichts zu befürchten hat und sich wenig um Glaubwürdigkeit scheren muss. Denn er kann ja davon ausgehen, dass inzwischen zu viele Bürger/-innen, die ihm im Bierzelt zujubeln, ihren Ressentiments freien Lauf lassen: Liegt alles lange zurück … man soll sich nicht so haben … wer hat schon nicht einmal einen Judenwitz gerissen … und wenn man nach Israel blickt – so viel besser als die Nazis sind die auch nicht … der sagt wenigstens mal, was wir denken … solche Flugblätter wären heute auch mal angebracht, dann würde endlich der rot-grün versiffte Mainstream aufgemischt …
Klar auch, dass man erst einmal alles auf den Bruder schieben kann, der so zum zweiten Helden dieses Schmierentheaters wird. Wahrscheinlich laufen in seinem Rosenheimer Waffenladen nun die Geschäfte bestens … schließlich leben wir in einem Land, in dem man sich auf der Straße nicht mehr sicher fühlen kann …
All das geschieht, wenn eine Frage der Grundwerte rein taktisch abgehandelt wird – und wenn Grundwerte durch das Reden und Handeln von Führungspersönlichkeiten nur noch als taktisches Instrument Bedeutung haben. Dann kann von den Sarrazins und Aiwangers so getan werden, als müsse man sich jetzt das Land zurückholen, das in Kreuzberg und anderswo „abgeschafft“ worden ist, und als wäre der Zeitpunkt gekommen, der Presse ihre Schranken aufzuzeigen. Diese Denke zieht sich wie ein roter Faden durch die neuere Zeitgeschichte.
Das Entscheidende: Bei Leuten wie Sarrazin und Aiwanger handelt es sich nicht um Rechtsextremisten, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, sondern um ach so bodenständige Politiker und Autoren, die endlich mal aussprechen, was schon lange hätte gesagt und geschrieben werden müssen … und die immer noch oder wieder hofiert werden und sich wie zu viele andere doch als nichts anderes erweisen als Brückenköpfe zur AfD.
Gesagt werden muss jetzt aber vor allem: NEIN, Nein zu diesen schmutzigen Machwerken, und JA zu einer Presse und zu Journalist/-innen, die das aufdecken und damit die Demokratie stärken.
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* So bezeichnet Hubert Aiwanger in seiner Antwort auf Frage 23 des Söderschen Fragenkatalogs den Vorgang aus dem Jahr 1987. Wenn das Erlebnis aber so einschneidend gewesen sein und „wichtige gedankliche Prozesse angestoßen“ haben soll, dann ist die Frage, warum Aiwanger nicht mehr wusste, wer das Flugblatt verfasst hat – einmal ganz davon abgesehen, dass offen bleibt, welche „gedanklichen Prozesse“ bei Aiwanger in Gang gesetzt wurden.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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