Wie passen Polizeigewalt und Strafandrohungen bei Leipziger Demonstrationen in die Demokratiebildung und Bürgerbeteiligung Sachsens? Wie viele junge Menschen wurden bei ihren ersten Demonstrationserfahrungen im Frühjahr 2023 zu Unrecht stigmatisiert und auch traumatisiert? Es ergeben sich viele Fragen, die neben der Verhältnismäßigkeit der Polizeimaßnahme und den Versorgungsdefiziten im Leipziger Kessel vom 3. Juni auch noch zu klären wären.  Eine unabhängige und transparente Aufarbeitung, die jene Punkte evaluiert, ist aktuell jedoch nicht absehbar.

Überhaupt ausstehend ist die Anerkennung von derartigen Polizeieinsätzen als soziales Trauma für die Betroffenen und dazugehörige Hilfestellung. Unterdessen verteidigte Sachsens Innenminister, Armin Schuster, auch nach dem Sonderausschuss des Landtages den vielfach kritisierten Polizeieinsatz zum TagX und beurteilte ihn als „äußerst erfolgreichen Einsatz“.

Erfolgreich war der Einsatz ohne Zweifel im Sinne einer polizeilichen Machtdemonstration, die Kollateralschäden sind jedoch erheblich – sowohl individuell für die betroffenen Menschen als auch gesamtgesellschaftlich für die Demokratie und die Demokratiebildung.

Förderprogramme für Demokratiebildung und Bürgerbeteiligung

Die Demokratiebildung sowie die gesellschaftliche und politische Beteiligung der Bürger*innen, insbesondere der jungen Generation, ist ausdrücklich erwünscht. Bund und Länder bieten dazu verschiedene Förderprogramme, auch in Sachsen werden Demokratie- und Beteiligungsprojekte beispielsweise durch das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG) und das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt (SMS) gefördert.

Auch Kulturförderprogramme implementieren zunehmend die Partizipation der Jugend und der rassismus- und machtkritische Diskurs erfährt mehr Beachtung in der inhaltlichen Projektarbeit. Exemplarisch werden nachfolgend die Erlebnisse und Erfahrungen von mehreren minderjährigen Jugendlichen auf Leipziger Demonstrationen geschildert.

Sie haben in den letzten Jahren in ihren Schulen oder auch in ihrer Freizeit an staatlich geförderten Maßnahmen zur Demokratiebildung und gegen Rechtsextremismus teilgenommen. Einige unter ihnen waren mit ihren Projekten Preisträger von verschiedenen Demokratie-Wettbewerben sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene.

Sie sind aktiv in der Jugend-Klimabewegung für eine nachhaltigere Gesellschaftsentwicklung und engagieren sich in ihrem Heimatort für Kinder- und Jugendbeteiligung und kulturelle Bildung. Zwangsläufig ergibt sich daraus eine Affinität zu humanistischen und solidarischen Gesellschaftsbildern sowie ein Engagement gegen die zunehmend rechtspopulistischen Tendenzen in Sachsen.

Und hier sollte man durchaus die prognostizierte Befürchtung zur Landtagswahl 2024 argumentativ geltend machen, nach der die AfD stärkste Kraft in Sachsen werden könnte. Seit Jahren verzeichnet die AfD kontinuierliche Zuwächse und überholte zum Jahreswechsel 2022/2023 erstmalig die CDU (Institut Wahlkreisprognose). Für viele junge Menschen ein Grund, sich mit ihren Möglichkeiten stärkend für demokratische Grundwerte und Grundrechte sowie gegen Nationalismus einzusetzen.

Undifferenzierte Polizeigewalt und Straftatandrohungen zerstören Vertrauen junger Menschen

Die ersten Demonstrationserlebnisse junger Menschen resultierten nunmehr innerhalb kürzester Zeit in derart negativen Erfahrungen, dass ihr Vertrauen in die Polizei nahezu zerstört ist. Und damit leidet auch das Vertrauen in Staat und Demokratie, in dessen Auftrag die Polizei vermeintlich agiert. Vor allem körperliche Gewalterfahrungen durch Polizisten und die willkürliche Konfrontation mit schweren Straftatbeständen, insbesondere ‚schwerer Landfriedensbruch‘ gemäß § 125a, stehen für sie in einem Widerspruch zu den ihnen vermittelten Werten und Rechten einer Demokratie.

Es ist offensichtlich, dass die Festlegung der polizeilichen Einsatzstrategie ein komplexes Problem darstellt, ebenso die Bewertung von Einsatzverläufen. Und gerade deshalb gilt es retrospektiv zu analysieren und kritische Punkte aufzugreifen, um zukünftig umsichtiger agieren zu können. Konkret adressieren die Jugendlichen rechtsabweichende Informationen zur Versammlungsfreiheit, ein überzogenes Aggressionspotential und undifferenzierte Straftatanschuldigungen bei verschiedenen Polizeiaktionen im Frühjahr 2023.

Bei einem professionellen Polizeieinsatz sollte ein Mindestmaß an Differenzierung und Analyse der beteiligten Menschen sowie ein deeskalierendes Einwirken zu erwarten sein. In den nachfolgend geschilderten Beispielen an Leipziger Polizeieinsätzen ist dies leider nicht gelungen.

Polizisten haben Menschen eingekesselt.
Teilweise bis in die frühen Morgenstunden wurden Menschen eingekesselt. Foto: LZ

1. Mai 2023 und Leipziger Montagsdemos – Spontanversammlungen münden in Kesselung und Straftatbestand

Jugendliche berichten, am 1. Mai an einem regulär angemeldeten Demonstrationszug in Leipzig vom Südplatz aus gestartet zu sein. Später seien sie auf dem Augustusplatz auf einen Aufmarsch der rechten Szene getroffen. Reichskriegsflaggen und menschenverachtende Reden im Leipziger Stadtzentrum. Eine Gruppe von Menschen hat sich daraufhin zu einer Spontanversammlung am Johannisplatz entschlossen.

Die Polizei hätte dann behauptet, dass die Versammlungsbehörde die Spontanversammlung untersagt hätte und die Versammlung wurde unter dem Straftatbestand einer ‚Verhinderungsblockade‘ eingekesselt und stundenlang festgehalten.

Minderjährige Versammlungsteilnehmende wurden gegen ihren Willen und ohne Einverständnis der Erziehungsberechtigten erkennungsdienstlich erfasst. Den Jugendlichen wurde vermittelt, dass sie aufgrund des Straftatbestandes ‚Verhinderungsblockade‘ angeklagt würden.

Die Behauptung der Polizisten, die Versammlungsbehörde hätte die Spontanversammlung an jenem 1. Mai 2023 am Johannisplatz nicht angenommen bzw. untersagt, erschließt sich für die Betroffenen auch im Nachgang nicht – warum wurde das Recht auf Versammlungsfreiheit hier durch Polizeigewalt
unterbunden?

Im Rahmen der allmontäglichen Versammlungen von rechten Gruppierungen, kam es an Mai-Montagen zu weiteren Spontanversammlungen als Protest gegen die rechtsoffenen Demonstrationen in Leipzig. Und erneut drohte die Einkesselung durch die Polizei.

Aufgrund der Erfahrungen vom 1. Mai wurden die Versammlungen jeweils selbständig beendet. Dennoch ereigneten sich Situationen, in denen Polizisten den jungen Demonstrierenden hinterherjagten und es zu ersten körperliche Gewalterfahrung im Leben von minderjährigen Personen durch Polizisten kam.

TagX , 3. Juni 2023 – Kesselung und erkennungsdienstliche Massenerfassung am Alexis Schumann-Platz

Die Ereignisse auf der Versammlung ‚Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig‘ des Say it loud e. V. haben bundesweit Aufmerksamkeit erfahren. Die Diversität der Medienberichterstattung verdeutlicht dabei die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Beurteilungen von Veranstaltern und Demonstrierenden auf der einen Seite sowie den Verantwortlichen des Polizeieinsatzes auf der anderen Seite.

Während die Polizei es so darstellt, dass die initiale Gewalt von Versammlungsteilnehmenden ausging, schildern Jugendliche aus der Versammlung, dass die Stimmung zunächst über einen längeren Zeitraum absolut gewaltfrei war.

Die Versammlung durfte allerdings nicht wie geplant loslaufen. Ausbruchsversuche von kleineren Gruppen wurden zum Anlass genommen, mehr als 1.000 gewaltfrei demonstrierende Menschen einzukesseln und erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu unterziehen. Unter den friedlichen Versammlungsteilnehmenden befanden sich auch über 80 minderjährige Personen. Sie wurden Zeugen, wie Menschen am Rand der Versammlung bedrängt und geschubst wurden, auch Schlagstöcke setzte die Polizei gegen die Demonstrierenden ein.

Im Inneren des Kessels verdichteten sich die Menschen zeitweise derart, dass man sich hätte nicht mehr hinsetzen können, berichten die jungen Versammlungsteilnehmenden. Die Jugendlichen sahen zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit, die Situation zu verlassen. Die von Polizeiseite in der aktuellen Debatte eingebrachten ‚Durchsagen‘, man hätte die Demonstration verlassen können, seien in der Praxis zumindest nicht bis in das Innere der Versammlung durchgedrungen.

Die erkennungsdienstlichen Maßnahmen erfolgten wiederum ohne Einverständnis der Erziehungsberechtigten. Die Prozeduren waren für die Jugendlichen erst weit nach Mitternacht abgeschlossen.

Pullover und Jacken wurden beschlagnahmt, es blieb nur das T-Shirt, berichtet eine 13-jährige Person. Ein ersatzweiser Wärmeschutz wurde dieser nicht zur Verfügung gestellt. Handys wurden beschlagnahmt, bis dahin hätten sich die Jugendlichen noch mit ihren Eltern und Freunden austauschen können.

Der Schlagstockeinsatz, die Beschlagnahmung der Kleidung und der Handys sowie die unterbundene Austauschmöglichkeit wurde als sehr beängstigend und mit einem Gefühl der Ohnmacht wahrgenommen. Die Polizisten hätten abschließend vermittelt, dass die Jugendlichen allein durch ihre Anwesenheit vor Ort eine Anklage wegen schweren Landfriedensbruchs zu erwarten hätten.

Dutzende Demonstrierende stehen einer Polizeikette gegenüber, die die Gruppe umschließt. die Demonstrierenden sind untereinander eingehakt, ihre Gesichter wurden unkenntlich gemacht.
Der Polizeikessel am Alexis-Schumann-Platz. Foto: Leipziger Zeitung

*Widersprüch**e und Fehleinschätzungen*

Am 12. Juni verteidigt der Innenminister in einer Sondersitzung des Sächsischen Landtages den Leipziger Kessel am Alexis-Schumann-Platz. Dabei begründete er das Vorgehen der Polizei mit 300–400 militanten Gewalttäterinnen und Gewalttätern unter den Versammlungsteilnehmenden am Alexis-Schumann-Platz. Die Umschließung sei praktisch die beste aller Möglichkeiten gewesen, um die Stadt und ihre Veranstaltungen vor der „geplanten Schlacht“ und den „militanten Aktivisten“ zu schützen.

Am 26. Juni nimmt der Leipziger Polizeipräsident, René Demmler, ausführlicher zur Situation zum TagX Stellung: „Die taktischen Ziele zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit in Leipzig wurden erreicht. Im Bereich der Umschließung gab es Defizite.“

In Zusammenhang mit dieser Stellungnahme erfolgte die Angabe nach Schätzung der Polizei auf etwa 300 bis 400 Eingeschlossenen vom Hubschrauber aus sowie durch Einsatzkräfte vor Ort. In Relation zu Schusters Aussage entspräche die Einschätzung einem Anteil von nahezu 100 % militanten Gewalttäterinnen und Gewalttätern. Allerdings skizzierte Schuster schon am 12. Juni ein Szenario, bei dem klarwurde, dass ein Einzelzugriff auf die 300–400 militanten Gewalttätigen deutlich mehr Versammlungsteilnehmende voraussetzt.

Konkrete Zahlen, wie viele tatsächliche ‚Gewalttäter‘ sich unter den insgesamt über tausend Demonstranten befanden, liegen jedoch weiterhin nicht vor. Dafür häufen sich die Fallberichte von Unbeteiligten und friedlichen Demonstrant*innen, die im Rahmen des Polizeieinsatzes unter den Generalverdacht linksautonomer Gewalt gestellt wurden und sich nunmehr mit dem Straftatbestand des schweren Landfriedensbruchs konfrontiert sehen.

Man kann jetzt schon mutmaßen, dass die Zahl der gewaltfrei Teilnehmenden auf der Demo ‚Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig‘ (Say it loud e. V.) um ein Vielfaches höher sein dürfte, als die von tatsächlichen ‚Gewalttätern‘. Deren tatsächliche Anzahl dürfte im kleinen einstelligen Prozentbereich liegen, was wiederum die polizeiliche Gefahrenprognose und Maßnahmen infrage stellen würde.

Kessel Alexis-Schumann-Platz. Foto: Tom Richter
Kessel Alexis-Schumann-Platz. Foto: Tom Richter

Erste Demonstrationserfahrungen von jungen Menschen resultieren in Kriminalisierung

Wie erklärt sich für die Betroffenen die Diskrepanz zwischen den vermittelten Inhalten der Demokratiebildung und den aktuellen Vorfällen? Wie können Innenminister und Polizeipräsident nach den Vorkommnissen von Deeskalation sprechen? Die Gespräche mit den Betroffenen zeigen keine deeskalierende Wirkung.

Wohin führt die Ignoranz, welche die Perspektive und Motivation der Versammlungsteilnehmenden außen vor lässt? Mit welcher Absicht kehrt sich die Polizeistrategie von basalen Werte und Einstellungen der Demokratiekompetenzen ab (Referenzrahmen des Europarates für Demokratiekompetenzen).

Alle Demonstrationsteilnehmenden am Alexis-Schumann-Platz wurden von den Verantwortlichen des Polizeieinsatzes pauschal als extremistisch und gewaltbereit eingestuft. Die wenigsten Menschen im Polizeikessel von 3. Juni würden sich selbst wohl als gewaltbereit klassifizieren.

Mit welchem Recht stigmatisiert und kriminalisiert die Polizei gewaltfrei demonstrierende Menschen ohne Extremismushintergrund und ohne Vorstrafen? Im ungünstigsten Fall können die Ereignisse für manche Menschen tatsächlich der Anfang und Auslöser einer Radikalisierung werden – dann aber mit der Polizei als ein Schlüsselfaktor in der Kausalkette.

Die Ereignisse am Alexis-Schumann-Platz zeigen Parallelen zum Hamburger Kessel von 1986 und dem G20-Einsatz 2017. Beide Einsätzen wurden im Nachhinein von Gerichten für rechtswidrig erklärt und dennoch blieben die Urteile für die Verantwortlichen und öffentliche Wahrnehmung weitgehend ohne Konsequenzen.

Staatliche Gewalt richtete sich gegen in der Mehrzahl friedliche Menschen, auch gegen Minderjährige. Junge Menschen mit einer gesellschaftlichen Grundhaltung und dem Mut dafür auf die Straße zu gehen, ihr Versammlungsrecht in Anspruch zu nehmen, dies mit dem Ziel, sich an gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zu beteiligen.

Jugendliches Engagement wertschätzen und für Transformationsprozess nutzbar machen

Und sind es nicht genau jene jungen Menschen, die sich humanistisch, solidarisch und ökologisch motiviert in die gesellschaftlichen Debatten einbringen wollen, die der ökologisch-solidarische Transformationsprozess benötigt? Welche Möglichkeiten gibt es, diese wertvollen Ressourcen besser zu fördern und zu nutzen anstatt sie durch Repression zu frustrieren und kaltzustellen?

Cover Leipziger Zeitung Nr. 115, VÖ 29.07.2023. Foto: LZ

Aus Perspektive der Betroffenen resultierte die Einsatzstrategie und nunmehr noch unablässige Strategierechtfertigung vor allem in Misstrauen und Ablehnung gegenüber der Polizei selbst. Und doch schwindet gleichzeitig das Vertrauen in Staat, Stadt, Demokratie und Beteiligungsmöglichkeiten.

Die Eindrücke der jungen Menschen in den letzten Wochen können weder Erziehungsberechtigte noch staatliche Maßnahmen wettmachen. Allein NGOs wie der Rote Hilfe e. V., Eltern gegen Polizeigewalt oder Omas gegen Rechts sowie Angehörige und Freunde versuchten die traumatisierten Betroffenen in den Wochen nach den Ereignissen aufzufangen. Und dennoch werden die Vorfälle langfristig traumatische Auswirkungen haben, sowohl auf individueller als auch gesamtgesellschaftlicher Ebene.

Es gilt zu überlegen, wie hier verlorenes Vertrauen in die Polizei, den Staat, die Stadt, die Demokratie und die Bürgerbeteiligung wiederhergestellt werden kann. Die Auslassungen der Verantwortlichen des Polizeieinsatzes in der Sondersitzung des Landtages am 12.06. haben dazu bisher keinen Beitrag geleistet.

Zunächst scheint ein unabhängiger und transparenter Aufarbeitungsprozess erforderlich. Da dieser insbesondere im Interesse der Stadt Leipzig und seiner Bürger*innen sowie der Demokratieförderer (z. B. SMJusDEG, SMS) liegen sollte, wäre es wünschenswert, wenn sich diese Institutionen an einer unabhängigen  Aufarbeitung beteiligen, insbesondere auch die Betroffenen dabei einbinden und den Aufarbeitungsprozess transparent kommunizieren.

„Leipziger Versammlungsfreiheit und TagX: Verhängnisvolle Demokratie-Erfahrungen für junge Menschen“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 115, der LEIPZIGER ZEITUNG.

Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar