Vor neun Jahren verรถffentlichte die Wochenzeitung DIE ZEIT ein moderiertes Gesprรคch zwischen Altbundeskanzler Helmut Schmidt (1918โ€“2015) und seinem Freund, dem Schriftsteller Siegfried Lenz (1926โ€“2014). Am Ende des Gesprรคchs kommt Helmut Schmidt auf die Gefahren des Krieges zu sprechen:

Schmidt: Jedenfalls haben die alten Kriegsteilnehmer nicht das heutige Schlagwort von der โ€žresponsibility to protectโ€œ erfunden. Ein schlimmes Schlagwort, das zwar idealistisch klingt, zugleich aber den Vorwand fรผr Interventionen in dritte Staaten liefert. Das ist lebensgefรคhrlich. Das hรคtten die Kriegsteilnehmer nicht erfunden.

Magenau: Weil die folgenden Generationen leichtfertiger sind?

Schmidt: Ja. Viel leichtfertiger. Ihnen ist auch die Gefahr des atomaren Weltkrieges nicht bewusst.

Lenz: Leichtfertigkeit. Ja, so ist es leider.

Magenau: Das heiรŸt, die Kriegsgefahr wรคchst dadurch, dass eine Generation politische Verantwortung hat, die den Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennt?

Schmidt: Ja. Kann man so sagen. Aber ich muss etwas anderes loswerden, nรคmlich die Tatsache, dass man heute, unter heute lebenden Russen, keinen Hass auf die Deutschen mehr findet. Das ist eine wunderbare Erfahrung. Geopolitisch gesehen ist Russland auch am Ende des 21.โ€†Jahrhunderts unser Nachbar. Das wird auch so bleiben. Und zwischen uns beiden liegt nach wie vor das zahlenmรครŸig kleine polnische Volk. Auch das wird so bleiben. Und es braucht immer wieder Deutsche, die beides verstehen und die sich mit der Geschichte auseinandersetzen.

Was mich an diesem Gesprรคchsgang schon 2014 hellhรถrig gemacht hat, ist weniger die Bemerkung zu Russland und Polen. Diese ist sehr realistisch und zeigt auf, dass Frieden in Mitteleuropa nur mรถglich ist, wenn alle Lรคnder auf jeweilige Nationalismen verzichten und vรถlkisch motivierte Verfeindung ablehnen. Das lรคsst die Vermutung zu, dass Helmut Schmidt heute wahrscheinlich die Strategie der NATO im Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unterstรผtzen wรผrde.

Was mich aber sehr viel mehr bewegt, ist das Stichwort โ€žLeichtfertigkeitโ€œ als Folge von fehlender eigener (Kriegs-)Erfahrung und mangelndem historischem Bewusstsein. Nun kann man niemandem vorwerfen, dass er Krieg nicht erlebt hat. Im Gegenteil: Ich selbst halte es fรผr einen Segen, Krieg und den Nationalsozialismus nicht aus eigener Erfahrung zu kennen. Das ist gleichzeitig Auftrag, alles zu tun, um kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden und die Demokratie zu verteidigen. Leichtfertigkeit aber lauert als Gefahr dann, wenn man in die Analyse gegenwรคrtiger Politik nicht mehr die historischen Entwicklungen einbezieht, die fรผr einen selbst in nicht miterlebter Vergangenheit liegen.

Darum: Wenn heute bis zu 25 % der wahlberechtigten Bรผrgerinnen und Bรผrger ernsthaft in Erwรคgung ziehen, einer faschistischen Partei wie der AfD bei kommenden Wahlen ihre Stimme zu geben, dann ist diese Absicht mit โ€žleichtfertigโ€œ noch euphemistisch (beschรถnigend) umschrieben. Jedenfalls scheinen bei vielen Bรผrger/-innen die ungeheuren Verbrechen nicht mehr prรคsent zu sein, die die Partei begangen hat, in deren Tradition sich fรผhrende Personen der AfD wie Bjรถrn Hรถcke sehen: die NSDAP.

Hinzu kommt, dass eine der Folgen jedes Nationalismus die innere und รคuรŸere Militarisierung von Politik und Gesellschaft ist. Damit ist die Verweigerung verbunden, sich in Staatenbรผndnisse zu begeben, die das Ziel haben, alle mรถglichen Konflikte ohne Einsatz von kriegerischer Gewalt zu lรถsen. Dieser Nationalismus ist programmatisches Grundanliegen der AfD wie auch das Bestreben, in den nรคchsten Jahren die Europรคische Union zu zerstรถren und die NATO zu verlassen. Dieses Bestreben korrespondiert damit, den internationalen Austausch โ€“ vom Grundrecht auf Asyl bis hin zu kultureller Vielfalt und wissenschaftlichem Austausch โ€“ radikal zu minimieren bzw. abzuschaffen.

Diesem grundgesetzwidrigen Ansinnen scheinen viel zu viele Bรผrger/-innen folgen zu wollen โ€“ und zwar รคuรŸerst leichtfertig. Offensichtlich ist bei ihnen alles, was vor 100 Jahren zum Niedergang der ersten deutschen Demokratie, zum Aufschwung des Nationalsozialismus und zum Terrorregime Hitlers gefรผhrt hat, in Vergessenheit geraten.

รœbrig bleibt die Faszination, die von der nationalsozialistischen โ€žBewegungโ€œ ausgeht, wenn man sie auf Leni Riefenstahl-Filme reduziert, und die ein Bjรถrn Hรถcke auf jeder seiner Kundgebungen zu zelebrieren versucht โ€“ notdรผrftig kaschiert vom hohlen Versprechen, die soziale Lage des sog. kleinen Mannes durch Ausgrenzung unliebsamer Bevรถlkerungsgruppen zu verbessern.

Dieser um sich greifenden Leichtfertigkeit muss sehr aktiv begegnet werden โ€“ vor allem in den Bildungseinrichtungen und im รถffentlichen Raum von Stรคdten und Gemeinden. Darum ist es ein Alarmsignal, wenn in der sรคchsischen Gemeinde Limbach-Oberfrohna im Herbst des vergangenen Jahres der Gemeinderat mit den Stimmen von AfD und CDU die Verlegung von zwei Stolpersteinen fรผr Mitglieder KPD, die von den Nazis ermordet wurden, verhindert hat (https://taz.de/Forscher-ueber-AfD-Kommunalpolitik/!5947569/).

Ebenso muss jeden Bรผrger, jede Bรผrgerin der ganz alltรคgliche Rechtsextremismus mehr als beunruhigen: Da wird in Gรถrlitz ein Pรคrchen von Rechtsradikalen in der eigenen Wohnung รผberfallen, in Sebnitz attackieren Rechtsradikale Geflรผchtete in deren Unterkunft und im brandenburgischen Drewitz spielen โ€žHobby-Soldatenโ€œ 2. Weltkrieg und verdecken nur notdรผrftig die Hakenkreuze โ€“ drei Meldungen von vielen.

Mit anderen Worten: Weder muss man selbst an einem Krieg teilgenommen haben, noch muss man mit dem Feuer eines AfD-Faschismus spielen, um zu wissen, dass beides nur ins Verderben fรผhrt. Es kommt darauf an, sich die politische Wachheit und das historische Bewusstsein anzueignen, die die Menschen an den Tag gelegt haben, die nach 1945 die Weichen in Richtung freiheitlicher Demokratie gestellt und damit Deutschland der Verpflichtung unterzogen haben, โ€žin einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienenโ€œ (Prรคambel des Grundgesetzes).

Keine soziale Verwerfung, kein schlechtes Gesetz, keine Verfehlung eines Politikers oder einer Politikerin rechtfertigen, diese Weichenstellung zu korrigieren.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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