Heute ist der 20. Juli. Vor 79 Jahren versuchten Widerstandsgruppen, Adolf Hitler zu beseitigen und Deutschland vom nationalsozialistischen Terror zu befreien. Dieser Tag bietet keinen Anlass, irgendeine Widerstandsrhetorik anzuschlagen. Wohl aber gilt es heute, den Bedingungen zu widerstehen, die zum 20. Juli gefรผhrt haben.
Wie ein drohendes Unwetter bauen sich seit Wochen die Umfrageergebnisse fรผr die AfD auf. Wird sich das bei den nรคchsten Wahlen 2023 entladen? Flankiert werden die Prognosen von erschreckenden Berichten รผber den ganz alltรคglichen Rechtsextremismus. So haben zwei Lehrkrรคfte aus Burg (Landkreis Spree-Neiรe/Brandenburg) vor wenigen Tagen um ihre Versetzung gebeten, weil sie sich durch zahlreiche Angriffe aus dem rechtsextremistischen Lager bedroht sehen.
Das hรถchst Beunruhigende an diesem Vorgang: Es gibt keine eindeutige Solidaritรคt im Lehrer/-innenkollegium mit den beiden Lehrkrรคften; Eltern fordern deren Entlassung aus dem Schuldienst. Dieser Vorgang, leider kein Einzelfall und nicht auf Brandenburg beschrรคnkt, zeigt, welch gefรคhrliche Gemengelage inzwischen in Bildungseinrichtungen vor allem im lรคndlichen Raum entstanden ist. Rechtsnationalisten wittern ihre Chance, wollen mit der AfD den โSystemwechselโ, legen die Axt an die Grundwerte unserer Verfassung. Sie scheuen vor nichts zurรผck: Einschรผchterung und gewalttรคtige Ausgrenzung all derer, die einer โhomogenen Gesellschaftโ im Wege stehen.
Lรคngst haben in der AfD die Hรถckes das Sagen โ also diejenigen, die bewusst an den Nationalsozialismus der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts โ โbereinigtโ von Kriegsschuldkult und Holocaust โ anknรผpfen wollen. Diese rechtsnationalistisch ausgerichtete AfD droht bei den anstehenden Europa- und Landtagswahlen in Thรผringen, Sachsen und Brandenburg zur stรคrksten Partei zu werden.
Weil solche Ergebnisse aber davon abhรคngig sind, wie der einzelne Bรผrger, die einzelne Bรผrgerin bei den Wahlen abstimmen, ist es jetzt die vordringliche Aufgabe aller Demokrat/-innen, aller demokratischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, dem Rechtsnationalismus und dem damit verbundenen Rassismus und Antisemitismus jeden Tag offen entgegenzutreten, fรผr die Demokratie zu werben und vor allem keinen AfD-Narrativen auf den Leim zu gehen.
Ich nenne fรผnf dieser Narrative:
- Geflรผchtete verstรคrken die Kriminalitรคt in Deutschland.โBurkas, Kopftuchmรคdchen und alimentierte Messermรคnner und sonstige Taugenichtseโ (Alice Weidel) bedrohen die Sicherheit des Einzelnen. Wenn Deutschland keine Geflรผchteten mehr ins Land lรคsst, gibt es auch keine Straftaten durch Auslรคnder. Frauen kรถnnen wieder sicher leben.
- Es gilt eine deutschnationale Leitkultur aufzubauen, um Sprache und Kultur von der rot-grรผn-versifften Ideologie der 68er-Generation zu befreien. Deswegen fรผhrt die AfD einen Kampf gegen das Gendern, gegen LGBTQ-Bewegungen, gegen gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt.
- Der Klimawandel wird geleugnet bzw. als natรผrliche Entwicklung gedeutet. Darum lehnt die AfD alle Maรnahmen ab, um die bedrohlichen Folgen des Klimawandels einzugrenzen. Nach der AfD ist weder eine Energie- noch eine Mobilitรคtswende erforderlich. Im Gegenteil: Wenn weiter auf Atomkraft und den Bau von Autos mit fossilen Antrieben gesetzt wird, wird es der deutschen Wirtschaft blendend gehen. Die AfD geriert sich als Freiheitspartei gegen die โรko-Diktaturโ.
- Die sozialpolitischen Forderungen der AfD beziehen sich ausschlieรlich auf gegenwรคrtige Krisen (Geflรผchtete, Ukraine-Krieg), aber nicht auf die รถkonomischen Bedingungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft. D.h. Die AfD vernebelt (wie einst die NSDAP) ihre Affinitรคt zum Kapitalismus pur und gaukelt den Menschen, die in prekรคren Verhรคltnissen leben, vor: Wenn es keine Geflรผchteten gibt und wenn Deutschland mit Russland wirtschaftlich kooperiert und sich ganz aus dem Ukraine-Krieg heraushรคlt, wird es euch besser gehen.
- Deutschland ging es immer dann gut, wenn Russland stark war โ so Alexander Gauland und Bjรถrn Hรถcke. Darum muss laut AfD alles vermieden werden, was Russland politisch und wirtschaftlich schwรคcht. Auf diesem Hintergrund prรคsentiert sich die AfD als quasi-pazifistische Partei, kritisiert die militรคrische Unterstรผtzung der Ukarine, verlangt โnormaleโ Beziehungen zu Putin und mehr Distanz zu den USA (ausgenommen Donald Trump!).
Mit diesen fรผnf Narrativen versucht die AfD, die politische Debatte zu bestimmen. Darum muss sich jeder, der eines der Themen anspricht, immer kritisch fragen, ob er mit seinen Argumenten ein AfD-Narrativ bedient. Dabei geht es nicht darum, irgendwelche Themen aus dem Diskurs zu verbannen. Es geht um das WIE der Argumentation.
- Natรผrlich mรผssen wir einen gesellschaftspolitischen Diskurs darรผber fรผhren, wie wir mit zunehmender Migration und Geflรผchteten so umgehen. Wenn sich die politischen Forderungen aber darauf beschrรคnken, das Grundrecht auf Asyl aus dem Grundgesetz zu streichen (so jรผngst die abenteuerliche Forderung von Thorsten Frei aus der CDU-Bundestagsfraktion), dann ist das ausschlieรlich Wasser auf den Mรผhlen der AfD. Man kann aber sowohl vor Ort und wie auch auf Bundesebene das Thema ganz anders angehen. Zuerst und vor allem den Gewinn verdeutlichen, den unsere Gesellschaft durch viele Geflรผchtete erfahren hat. Die Logistikbranche wรคre in der Pandemie-Zeit kollabiert, wenn nicht die syrischen, afghanischen, pakistanischen Geflรผchteten die Pakete ausgetragen hรคtten. Der Fachkrรคftemangel wรคre um ein Vielfaches hรถher, wenn wir nicht zurรผckgreifen kรถnnten auf das berufliche Potential unter den Geflรผchteten. Insofern ist es dringend erforderlich, dass die groรartige Integrationsleistung der Geflรผchteten und der deutschen Bevรถlkerung zuerst und vor allem gewรผrdigt wird. Es ist an der Zeit, dass flรคchendeckend gerade im 75. Jahr des Grundgesetzes 2024 Dank- und Anerkennungsfeste stattfinden: Dank an alle Bรผrgerinnen, die sich um einzelne Geflรผchtete gekรผmmert haben; Dank an die Geflรผchteten, die heute schon einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Unter dieser รberschrift sind dann auch alle Probleme offen und illusionslos anzusprechen wie die menschenwรผrdige Aufnahme von Geflรผchteten in Stรคdten und Gemeinden, die Gefahr der kulturellen, religiรถsen Abkapselungen von auslรคndischen Gruppen, wie die Gewaltbereitschaft in Schwimmbรคdern, bei Straรenfesten, gegen Frauen.
- Gerade im Blick auf die Europawahlen muss die AfD wegen ihrer Forderung, Deutschland solle die EU verlassen (Dexit), und wegen ihrer Affinitรคt zum Autokratismus gestellt werden. Es ist daran zu erinnern: Die deutsche Einheit ist nur mรถglich gewesen unter den Bedingungen eines vereinten Europas. Dieses Europa ebnet notwendig die Nationalstaatlichkeit immer mehr ein. Niemals hรคtten Frankreich und England der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zugestimmt, wenn das Ziel der Einheit ein deutscher Nationalstaat womรถglich in den Grenzen von 1937 gewesen wรคre. Genau das aber schwebt den Rechtsnationalisten aller Schattierungen vor, wenn sie wie die AfD die Parole ausgeben โVollende die Wendeโ: ein autokratisch regiertes Deutschland. Das aber hat mit dem Aufbruch zur Demokratie 1989/90 nichts gemein.
- Die Haltung der AfD zu Russland hat nichts zu tun mit einer europรคisch ausgerichteten Friedens- und Versรถhnungspolitik, wie sie ein Willy Brandt und Egon Bahr vor 60 Jahren konzipiert haben. Sie beinhaltet auch keine pazifistisch ausgerichtete Auรenpolitik. Die AfD sieht in Russland einen durch Wladimir Putin nationalistisch-autokratisch gefรผhrten Staat, der imperiale Interessen durchzusetzen vermag โ genau das, was der AfD im Blick auf Deutschland vorschwebt. Das bedeutet: Wer AfD wรคhlt, fรถrdert einen nationalistischen Militarismus und eine aggressive Auรen- und Abgrenzungspolitik in Europa. Dagegen sind die derzeitige Aufrรผstungspolitik und die Waffenlieferungen an die Ukraine geradezu harmlos. Das kommt nicht nur jedem Bรผrger, jeder Bรผrgerin teuer zu stehen. Es birgt die groรe Gefahr eines von Deutschland ausgehenden Krieges in sich: der Hitler-Stalin-Pakt redivivus.
Allen Narrativen der AfD ist eines gleich: Sie leben von der militanten Ab- und Ausgrenzung. Der Wert des (mรถglichst deutschen) Menschen bestimmt sich durch die Herabsetzung des anderen (nichtdeutschen, queeren โฆ). Das hat aber mit der Wรผrde eines jeden Menschen als kritisches Korrektiv aller Politik nichts mehr zu tun. Hinzu kommt, dass die AfD den Menschen vorgaukelt: Eine vielfรคltige, offene Gesellschaft schafft nur Probleme, die kaum lรถsbar sind. Eine deutsche, homogene, in sich abgeschlossene Gesellschaft lรคsst sich einfach fรผhren. Darum lehnt die AfD eine internationale Vernetzung Deutschlands (EU und NATO) ab.
Sie verfolgt in allen Fragen die Strategie: Problemlรถsung durch Problemvernichtung, weil sie รผber keine Antworten verfรผgt โ alles wie gehabt in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei kommt der AfD zugute, dass in Zeiten multipler Krisen die fehlende Verankerung vieler Menschen in sinn- und wertestiftenden Angeboten wie dem biblischen Glauben, also eine inhaltliche Haltlosigkeit, ausreichend Einflugschneisen fรผr vรถlkisch-nationalistisches Gedankengut bietet โ auch das eine Parallele zu den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Dieses mรผssen wir in den kommenden Wochen und Monaten in allen Begegnungen und Diskussionen im Familien- und Freundeskreis, im beruflichen und nachbarschaftlichen Umfeld zur Sprache bringen. Ganz wichtig wird dabei sein, wie sich die Fรผhrungspersรถnlichkeiten vor Ort positionieren: Lehrer/-innen genauso wie die Kita-Leitungen, der Vereinsvorsitzende der Freiwilligen Feuerwehr genauso wie die Filialleiterin der Sparkasse, der Bรผrgermeister genauso wie die Pfarrerin, der Landrat genauso wie die Abgeordneten der demokratischen Parteien.
Bei aller Unterschiedlichkeit: Niemals die Narrative der Rechtsnationalisten bedienen und durch persรถnliches Engagement fรผr die Demokratie รผberzeugen! Keine Frage: Das ist eine riesige Herausforderung und erfordert Zivilcourage โ gerade weil man in den vergangenen Jahr(zehnt)en die Rechtsnationalisten hat ungestรถrt gewรคhren lassen. Ein Umsteuern ist aber jederzeit mรถglich und wird schnell Erfolg zeitigen โ nicht zuletzt auch dann, wenn wir bei aller Kritik der Arbeit der Menschen in den demokratischen Parteien, in den Parlamenten und Regierungen mit grรถรerer Wertschรคtzung begegnen.
Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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