โ€žDie Basis brรถckelt leiseโ€œ โ€“ so รผberschrieb Matthias Drobinski im Jahr des Reformationsjubilรคums 2017 seinen Artikel รผber die Kirchenaustrittszahlen. Sechs Jahre spรคter ist aus dem โ€žleisen Brรถckelnโ€œ ein Felssturz geworden: 520.000 Menschen haben 2022 die katholische, 380.000 die evangelische Kirche verlassen โ€“ d. h. der prozentuale Anteil derer, die aus den Kirchen ausgetreten sind, hat sich seit 2017 verdoppelt: von 0,9 auf รผber zwei Prozent.

Von den Kirchen ist angesichts dieser Zahlen relativ wenig zu hรถren. Eine offensive Auseinandersetzung mit dem dramatischen Aderlass findet kaum statt. Dabei hat die Austrittsbereitschaft lรคngst die Gruppen der Kirchenmitglieder erreicht, die sich bis jetzt aktiv am Gemeindeleben von Kirchgemeinden beteiligt haben. Offensichtlich kehren nicht nur diejenigen der Kirche den Rรผcken, die sich innerlich schon lรคnger vom christlichen Glauben verabschiedet haben. Jetzt treten auch die aus, die sich weiter als Christen verstehen wollen, aber das Gebaren der Institution Kirche nicht mehr zu akzeptieren bereit sind und die Hoffnung auf Verรคnderung aufgegeben haben.

Das bedeutet: Neben den Auswirkungen der fortschreitenden Sรคkularisierung bekommen die Kirchen auch die Folgen ihrer Selbstรผberheblichkeit (das gilt vor allem fรผr die katholische Kirche) und erwartungslosen Selbstbeschรคftigung zu spรผren. Denn das ist ja der Eindruck, den zu viele Menschen gewinnen: Kirche befasst sich seit Jahren ausschlieรŸlich mit sich selbst, d. h. mit ihren Strukturen und ihrem Personal, verbrennt dabei vor allem personale Ressourcen und hat massiv an Ausstrahlung auf das Leben ihrer Mitglieder, geschweige denn auf die Gesellschaft verloren.

So verschwimmt die Botschaft der Kirche immer mehr im Ungefรคhren und die Bindungskraft ihres Wirkens erlahmt. Fรผr die evangelische Kirche kann und darf es kein Trost sein, dass der rasante Anstieg der Austritte aus der katholischen Kirche vor allem auf den Missbrauchsskandal und seine systemischen Bedingungen zurรผckzufรผhren ist. Auch sie tut sich schwer damit, der Wucht der Austrittswelle mit Aufbruchsignalen zu begegnen.

Es ist sicher kein Zufall, dass wenige Tage nach der Verรถffentlichung der neuen Mitgliedszahlen der Kirchen am morgigen Montag, dem 03. Juli 2023, vor dem Kirchlichen Verwaltungsgericht in Dresden die zukรผnftige Gestalt der beiden Leipziger Innenstadtgemeinden St. Nikolai und St. Thomas verhandelt wird. Dass es zu diesem Prozess รผberhaupt kommen musste, ist an sich ein Trauerspiel. Es zeigt, in welch fatale Sackgassen ein selbstherrliches Agieren kirchenleitender Organe fรผhrt.

Den beiden Kirchgemeinden St. Nikolai und St. Thomas blieb keine andere Wahl, als gegen die beabsichtigte organisatorische Vereinigung der beiden Innenstadtgemeinden zu klagen โ€“ wohl wissend, dass ein solches Vorgehen in der jetzigen Situation grenzwertig ist.

Doch wie in fast allen Landeskirchenรคmtern in Deutschland fรคllt den Bรผrokraten im Dresdner Landeskirchenamt nichts anderes ein, als Milchmรคdchenrechnungen aufzumachen, Kirchgemeinden zusammenzulegen, sog. Regionen zu bilden, Personal einzusparen bei gleichzeitiger Maximierung des Verwaltungsaufwandes und organisierter Distanz zu den Kirchenmitgliedern. Dies alles ohne inhaltlich fundierte, strategisch angelegte รœberlegungen zu der Frage, was denn Kirche in den nรคchsten Jahren in einer Stadt wie Leipzig will.

Heraus kommt bei dieser organisierten Gedankenlosigkeit, dass die Menschennรคhe kirchlicher Arbeit und damit die Qualitรคt kirchlicher Existenz auf der Strecke bleiben. Kein Wunder, dass sich immer mehr Kirchenmitglieder fragen, was ihnen die Kirchenmitgliedschaft noch bringt, wenn sie gar nicht mehr auf ihre Mitgliedschaft hin angesprochen werden.

Diese fatale Strategie der Selbstzerstรถrung hat jetzt schon solche Schรคden angerichtet, dass man sich an den Kopf fasst: Wie kann es sein, dass eine aus Kirchensteuergeldern finanzierte Behรถrde abseits organisatorischer, wirtschaftlicher, theologisch-geistlicher รœberlegungen sog. โ€žStrukturreformenโ€œ auf den Weg bringt und bรผrokratisch durchzusetzen versucht, deren einzige Folge sein wird, dass sich der Prozess des Niedergangs auch in den Bereichen beschleunigt, die bis jetzt noch zu den Leuchttรผrmen der Kirche gehรถrt haben?

Die Absicht, die Kirchgemeinden St. Nikolai und St. Thomas organisatorisch zu vereinigen, ist auch deswegen kompletter Unsinn, weil beide Kirchgemeinden eigenstรคndig lebensfรคhig sind. Sie sind in der Lage, durch ihr je eigenstรคndiges Profil und eine menschennahe Gemeindearbeit einen bedeutenden Beitrag zur Attraktivitรคt kirchlicher Arbeit in der sรคkularen Stadtgesellschaft zu leisten. Doch offensichtlich hat die Kirchenverwaltung genau daran kein Interesse. Offensichtlich sollen alle gewachsenen Strukturen beseitigt werden, die dem Dirigismus selbstherrlicher Bรผrokraten im Weg stehen. Begrรผndet wird das damit, dass alle Kirchgemeinden gleich behandelt werden mรผssen โ€“ sprich: wenn schon Niedergang, dann bitte lรผckenlos.

Wieder zeitigt die unheilige Allianz von Machtarroganz und Inkompetenz ihre zerstรถrerische Wirkung โ€“ ein leider urkatholisches รœberbleibsel in der lutherischen Kirche Sachsens.

Nun wird sich am Montag zeigen, ob es durch den kirchenrechtlichen Klรคrungsprozess gelingt, dem reformatorischen Prinzip auch in Sachsen zum Durchbruch zu verhelfen, dass sich Kirche von der Ortsgemeinde her aufbaut. AuรŸerdem hoffe ich, dass durch die Rechtsprechung die AnmaรŸung des Landeskirchenamtes zurรผckgewiesen wird, dass sie allein bestimmt, wie Gesetze und Verordnungen auszulegen sind.

Noch haben das Landeskirchenamt und der Landesbischof es in der Hand, die Kirche vor weiterem Schaden zu bewahren. Noch kรถnnten sie sich am Tag des Apostels Thomas (3. Juli), dem Namenspatron der Thomaskirche, leiten lassen von dem Tagesspruch: โ€žWie lieblich sind auf den Bergen die FรผรŸe des Freudenboten, der da Frieden verkรผndigt, Gutes predigt, Heil verkรผndigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist Kรถnig!โ€œ (Die Bibel: Jesaja 52,7).

Dann kรถnnte das in den Fokus geraten, was jetzt nottut: dass sich Kirche endlich auch als eine an ihren Mitgliedern orientierte Institution versteht und mit einem aus der biblischen Botschaft gespeisten Selbstbewusstsein auftritt.

Christian Wolff, geboren 1949 in Dรผsseldorf, war 1992โ€“2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjรคhriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater fรผr Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des รถffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/

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