PD Dr. Sven Speerforck ist sozusagen Sucht-Experte. Der leitende Oberarzt fรผr Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Leipzig ist tรคglich mit Sucht und Abhรคngigkeit konfrontiert. Im ausfรผhrlichen LZ-Interview erlรคutert er die Grรผnde fรผr Sucht, die neurobiologischen Vorgรคnge und auch die Symptome von Sucht.

Herr Dr. Speerforck, warum sind Menschen sรผchtig und sind alle Menschen sรผchtig?

Diese Frage kann man nicht einfach beantworten, die Antwort ist eher komplex. Eigentlich ist es so: Wir kรถnnen sรผchtig werden, weil wir morgens aufstehen, weil unser Gehirn so strukturiert ist, dass wir gewisse Dinge gerne tun. Im Laufe der Evolution haben wir bestimmte Verhaltensweisen gelernt zu verstรคrken, das fassen wir unter dem Wort Belohnungsmechanismus zusammen.

Dieser ist wichtig fรผr die Verhaltenssteuerung von Menschen. Und wenn man etwas tut, etwas zu sich nimmt, was ein gutes Gefรผhl auslรถst, dann ist es naheliegend, immer mehr davon zu tun oder zu konsumieren, um mehr von diesem Gefรผhl zu haben.

Da gibt es neurologische und verhaltenspsychologische Mechanismen. Wenn dieses Verhalten aber entgleist, dass es also nur noch darum geht, dieses Gefรผhl zu bekommen, dann ist das etwas, was wir irgendwann Sucht nennen. Sรผchtig zu werden, ist also im Menschen angelegt.

Aber nicht jeder wird automatisch sรผchtig. Was sind Grรผnde fรผr Sucht?

Es gibt den neurobiologischen Aspekt, aber auch den lerntheoretisch-psychologischen Aspekt und soziale Grรผnde. Wir wissen, dass es ein genetisches Risiko gibt, sรผchtig zu werden. Es gibt Gene, die den Belohnungskreislauf bestimmen. Eine gewisse Gen-Ausstattung birgt ein gewisses Risiko. Das haben Forscher in sogenannten Adoptivstudien herausgefunden.

Sie haben Menschen mit entsprechender genetischer Veranlagung untersucht, die in anderen als in ihren Familien aufgewachsen sind und dennoch ein hรถheres Risiko hatten, suchtkrank zu werden. Es gibt also ein Genrisiko, eine Genbelastung, aber auch Rahmenbedingungen, wie das Vorleben des Substanzkonsums bei Freunden und Familien, die das Risiko erhรถhen. Dann gibt es lerntheoretische Aspekte bei Substanzen, bei deren Konsum Dopamin freigesetzt wird.

Und von diesem guten Gefรผhl will der Konsument immer mehr beziehungsweise รผberlagert oder schwรคcht der Konsum negative Erfahrungen. Ein Beispiel wรคre bei Schlafstรถrungen zwei, drei Glรคser Alkohol zu trinken, um mich runterzufahren und mich zu beruhigen, was sich dann irgendwann zu mehr Glรคsern entwickelt. Substanzen haben zudem einen Gewรถhnungsfaktor. Wenn ich eine die Substanz nicht mehr konsumiere, dann weiรŸ der Kรถrper nicht mehr, was er tun soll und es kommt zu kรถrperlichen Reaktionen.

Wie funktioniert Sucht im Gehirn?

Es gibt Regelkreise, die fรผr die Motivation besonders wichtig sind. Da geht es zum Beispiel um die Dopamin-Freisetzung im Nukleus Accumbens. Dort wird รผber die Dopamin-Freisetzung gesteuert, was uns wichtig und was fรผr uns relevant ist. Wenn sie jetzt Substanzen konsumieren, etwa Kokain und Heroin, die Dopamin freisetzen, dann fรผhlt sich das gut an und dieses Verhalten wird hรคufiger gesucht.

Kurzfristig ist es schรถn, langfristig fรผhrt es zu Problemen, denn die Dopamin-Freisetzung wird immer geringer, wenn man immer dasselbe konsumiert. Das heiรŸt, man braucht mehr, um dasselbe AusmaรŸ an Dopamin zu bekommen. Bei Menschen, bei denen dieser Belohnungskreislauf nicht so gut funktioniert, also grundsรคtzlich weniger Dopamin ausgeschรผttet wird, besteht eine hรถhere Wahrscheinlichkeit, von diesen Substanzen abhรคngig zu werden.

Die Toleranzentwicklung, also dass man immer mehr braucht, fรผhrt dann irgendwann in die Sucht, es kommt dann zum Kontrollverlust. Ich kann dann nicht mehr mit einer Linie Kokain am Tag aufhรถren oder zwei, drei Bier. Wenn ich einmal konsumiere, kann ich nicht mehr so leicht โ€žStoppโ€œ sagen. Es wird ein quasi zwanghaftes Verhalten. Es ist eben auch deswegen eine Krankheit, weil es nicht mehr um den freien Willen geht.

Warum betonen Sie, dass es eine Krankheit ist?

Weil uns als Mediziner dieser Aspekt sehr wichtig ist. Sucht war lange nicht Teil der Medizin. Zu Betroffenen wurde bis vor wenigen Jahrzehnten gesagt, dass sie โ€žeinfach malโ€œ ihr Verhalten รคndern sollen. Die Aufnahme der Sucht in die Medizin war ein Riesenvorteil, weil man nun Behandlungen ermรถglichen konnte, die den Menschen halfen und Ressourcen fรผr die Gesundheitsversorgung zur Verfรผgung standen.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 112, Vร– 30.04.2023. Foto: LZ

Das Diagnose-Konzept schรผtzt, aber nur wenige Menschen wollen diese Diagnose haben, weil sie so stigmatisiert werden. Es behindert auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsum, weil Betroffene fรผrchten, sie wรผrden dann ausgegrenzt. Uns ist wichtig, zu sagen, dass es eine Erkrankung auf einem Kontinuum ist und dass es ein niederschwelliges Angebot an Hilfen gibt.

Dabei ist es hilfreich, den Schweregrad des Konsums zu unterscheiden. Es ist ein Unterschied, ob man einen halben Liter Bier oder drei Flaschen Schnaps am Tag trinkt. Die Menge der schรคdlichen Substanz ist fรผr einen GroรŸteil der psychologischen, kรถrperlichen und sozialen Folgen von Sucht verantwortlich. Die Vorstellung von Substanzkonsum auf einem Kontinuum kann helfen, die Scham zu verringern und sich frรผher mit einem mรถglicherweise gefรคhrlichen Konsum auseinanderzusetzen.

Auf der einen Seite muss und sollte ein Suchtkonzept also schรผtzen und Ressourcen freisetzen, auf der anderen Seite sollte es nicht abschrecken und einen schamfreien Austausch รผber Konsumverhalten mรถglich machen.

Welche Relevanz hat die Stigmatisierung fรผr die Zahl der Abhรคngigen in Deutschland?

Wir mรผssen bei der Anzahl der Sรผchtigen in Deutschland von einer Unterbehandlung ausgehen, also dass weniger behandelt werden und sich Hilfe suchen als abhรคngig sind. Suchterkrankungen gehรถren zu den am schwersten stigmatisierten Erkrankungen in der Medizin.

Dies verhindert hรคufig eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten und fรผhrt zu viel Leid fรผr Betroffene und deren Familien. Stigmatisierung hilft eben nicht, diese Probleme zu lรถsen und fรผhrt dazu, dass auch niedrigschwellige Hilfsangebote wie Suchtberatungsstellen oder Erstgesprรคche in der Allgemeinmedizin nicht genutzt werden.

Was sind die Folgen von substanzgebundener Abhรคngigkeit als Jugendlicher und als Erwachsener?

Die Auswirkungen auf den Organismus sind grundsรคtzlich gleich, wobei es bei Jugendlichen noch um die Gehirnentwicklung geht. Die Jugend ist eine besonders vulnerable Phase bei der Entwicklung, das Gehirn ist viel neuroplastischer. Da findet noch viel Entwicklung statt. Der Jugendschutz achtet auf diesen neurobiologischen Aspekt, andererseits hat eine frรผhe Abhรคngigkeit eine Bedeutung fรผr das ganze Leben, weil die Weichenstellungen dann stattfinden.

Stichwort Schulabschluss oder Ausbildungsende. Die Gefahr eines Drifts nach unten ist besonders groรŸ in dieser Phase, weil die Wahrscheinlichkeit groรŸ ist, dass hier Weichenstellungen fรผr das Leben nicht oder falsch gestellt werden kรถnnen. Auch deswegen gibt es den Jugendschutz. Bei Erwachsenen geht es dann hรคufiger um kรถrperliche Folgeerkrankungen und Probleme am Arbeitsplatz, Nervenerkrankungen, Karzinome, Leberschรคden.

Der Alkohol hat zudem soziale Folgen: Verlust des Arbeitsplatzes, Fรผhrerscheinverlust, Konflikte in der Familie, im Freundeskreis. Einerseits durch die Stigmatisierung, andererseits durch die Konflikte in der Familie, Unzuverlรคssigkeit.

Wie erkennt man Sucht und was kann man als Angehรถriger tun?

Im Familien- und Freundeskreis sollte man auf allgemeine Anzeichen achten: Jemand ist weniger zuverlรคssig in Kontakten, leichter reizbar, jemand zieht sich zurรผck, man kommt an diese Person schwerer ran und richtige Unterhaltungen sind kaum noch mรถglich. Man kann vielleicht beobachten, dass jemand regelmรครŸig und mehr trinkt. Die Menschen wollen nur ein Bier trinken und dann sind es fรผnf oder sechs. Natรผrlich riecht man bei Alkohol auch eine Fahne.

Was kann man tun, wenn man vermeintlich Betroffene konfrontiert?

Es ist wichtig, erstmal Ich-Botschaften zu senden und nicht Vorwรผrfe oder Zuschreibungen zu machen. โ€žIch mache mir Sorgen, โ€ฆโ€œ, โ€žIch habe beobachtet, dass โ€ฆโ€œ Man sollte sich erstmal fรผr das Problem interessieren. Wenn man direkt mit einer Diagnose um die Ecke kommt, erzeugt man sehr viel Widerstand. Man braucht erstmal gemeinsamen Boden, um voranzugehen.

Wenn ein Betroffener sagt, dass sein Verhalten รผberhaupt kein Problem ist und er/sie sich keine Sorgen macht, dann kann man fragen: โ€žAb wann wรผrdest du dir denn Sorgen machen?โ€œ Substanzkonsum ist mit sehr viel Scham behaftet und diese Scham sollte man nicht erhรถhen, wenn man das Verhalten thematisiert.

Welche Unterschiede gibt es bei den Therapien je nach Sucht?

Das Weglassen des Suchtmittels kann unterschiedliche Folgen haben, bei Cannabis sind das zum Beispiel Schwitzen und Schlafstรถrungen, beim Alkohol drohen Delirium und epileptische Anfรคlle, bei Heroin starker Entzug mit starker psychomotorischer Reaktion. Je nachdem, um welche Substanz es sich handelt, gestaltet sich die Therapie.

Wir bieten einen sog. โ€žwarmenโ€œ Entzug an, also wir geben ein Medikament, was die Wirkung etwas imitieren kann und reduzieren dann die Dosis langsam in einem Zeitraum von wenigen Tagen bis zwei bis drei Wochen, um dem Gehirn die Chance zu geben, sich zu adaptieren fรผr ein Leben ohne die Substanz. Wenn es eine Entzugsbehandlung braucht, dann wรคre das ein erster Schritt.

Am Anfang stรผnde die Suchtberatung, da gibt es in Leipzig viele Angebote, dann kommt der angesprochene kรถrperliche Entzug und dann die Langzeittherapie. Das dauert dann acht bis zwรถlf Wochen oder je nach Schwere auch lรคnger. Danach sollte man versuchen, die langfristige Abstinenz zu erhalten, sich in Selbsthilfegruppen zu integrieren beispielsweise.

Inwieweit kompensieren Sรผchtige den Konsum des Suchtmittels nach der Behandlung?

Das gibt es. Frรผher hat man das Suchtverschiebung genannt. Das ist ein hรคufiges Problem in der Suchttherapie. Betroffene fragen sich wรคhrend der Therapie, warum sie aufhรถren zu konsumieren. Und da gilt es, die Betroffenen zu unterstรผtzen und darauf Antworten zu finden. Grundlegendes Prinzip sind hier die motivierende Gesprรคchsfรผhrung oder der sogenannte โ€žCommunity Reinforcement Approachโ€œ.

Wer aufgehรถrt, fragt sich, was er/sie denn frรผher den ganzen Tag gemacht hat, denn das wurde ja oft durch den Konsum zerstรถrt, der das Leben zunehmend bestimmt hat. Die Frage ist also: Was mache ich nun, wenn ich nicht mehr konsumiere? Es wird dann nach Alternativen gesucht, die auch wieder fรผr Endorphine sorgt. Es ist also wichtig, etwas zu finden, was den Alltag ausfรผllen oder strukturieren kann.

Das ist oft eine tiefgreifende Verhaltensรคnderung und dafรผr braucht man einen guten Grund, das durchzuziehen. Jeder, der mal versucht hat ein sehr eingefahrenes Verhalten zu รคndern, weiรŸ wie schwer das sein kann. Hier kann dann professionelle und soziale Unterstรผtzung im Umfeld helfen.

Kann man wirklich suchtfrei sein?

Die Mรถglichkeit gibt es. Ich kenne Menschen, die das geschafft haben, die sich selbst gar nicht mehr in Gefahr eines Rรผckfalls wรคhnen und ihren Weg gefunden haben. Die Mehrheit sagt, es gibt Situationen, die sind sehr gefรคhrlich fรผr mich. Dass man nach einer schweren Suchterkrankung sich ganz frei macht, ist schwer. Es gibt Umweltreize, die man mit frรผherem emotionalem Erleben verbindet.

Im besten Fall wird der Impuls kleiner. Es ist letztlich eine Management-Frage, dass man diese Risikosituationen antizipiert und wie man sie bewรคltigt. Betroffene schรคrfen ihr Bewusstsein, wann es fรผr sie gefรคhrlich wird, beispielsweise bei einem schรถnen Abend mit den Kollegen. Wenn man das bewรคltigt, dann stรคrkt man sein Selbstvertrauen trotz der Reize. Jeder kennt sich selbst am besten und wir als Profis mรผssen das begleiten.

Sind nicht irgendwie alle Menschen sรผchtig?

Nein, das sind sie nicht. Wir zeigen alle Verhalten, was wir gern machen, wo wir รผber die Strรคnge schlagen oder die Kontrolle verlieren. Suchtverhalten basiert aber auf einem Kontinuum, das irgendwann รผberschritten ist. Im Zentrum steht hier der ausgeprรคgte Kontrollverlust. Das geht dann mit einem hohen Leidensdruck einher.

Es wird schleichend mehr und man merkt irgendwann, dass man das Verhalten abstellen will, es aber nicht allein schafft. Das ist der Bereich, in dem wir dann von Abhรคngigkeit und Sucht sprechen. Wenn wir alle sรผchtig wรคren, wรคre das eine Krankheit, die wir alle haben. Dagegen sprechen die neurobiologischen Grรผnde, der Leidensdruck und auch die Probleme, die im sozialen Umfeld entstehen.

Meine Oma sagte immer, die Summe aller Laster ist gleich โ€ฆ

Ja, die gelegentliche MaรŸlosigkeit, der Exzess gehรถrt zum Menschen. Aber es ist ein Unterschied, ob ich einige Laster habe wie Snickers, Sofa oder das gelegentliche Glas Wein. Diese Laster lassen sich in der Regel ohne schweren eigenen oder familiรคren Leidensdruck genieรŸen.

Die Kriterien einer Suchtdiagnose gelten aktuell als erfรผllt, wenn von sechs verschiedenen Symptomen drei kontinuierlich รผber einen Monat oder wiederholt รผber ein Jahr da sind. Dazu gehรถrt die Toleranzsteigerung, also man braucht immer mehr, man hat zweitens ein starkes Verlangen, also eine Art Zwang, diese Substanz zu konsumieren.

Drittens kommt der Kontrollverlust dazu, also dass man eigentlich gar nicht so viel trinken oder konsumieren will, aber es dann doch mehr wird, dann viertens die Entzugssymptome und fรผnftens die Einengung des Lebens auf die Substanz, also dass man viele Gelegenheiten oder Zusammenkรผnfte schon unter dem Aspekt des Substanzkonsums betrachtet. Als Letztes dann, dass man die Substanz weiter konsumiert, obwohl es schon kรถrperliche oder psychische Folgeschรคden gibt, zum Beispiel erhรถhte Leberwerte oder ein stark verรคndertes Verhalten.

โ€žInterview mit Dr. Sven Speerforck: Sucht ist eine Krankheit, die behandelt werden kannโ€œ erschien erstmals zum thematischeSchwerpunkt โ€žSuchtโ€œ im am 30. April 2023 ersten ePaper LZ 112 der LEIPZIGER ZEITUNGDer Schwerpunkt wird das Thema in allen denkbaren Facetten behandeln: Alkohol, Drogen, aber auch eher Unbekanntes wie Pornosucht. Und wรคhrend die Debatte รผber die Legalisierung von Cannabis lรคuft, schauen wir zurรผck auf die Geschichte der Drogen quer durch die Zeitalter.

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