Eigentlich kommt jetzt der Frühling. Im Frühling wird’s wärmer, da nimmt das Leben nach der kalt grau feuchten Winterträgheit traditionell größere Fahrt auf. Das mag emotional und meteorologisch so sein. Politisch wird’s gerade kälter. In der Koalition klagt einer den anderen an, dem Klimawandel nicht genug Aufmerksamkeit zu schenken, während zugleich jeder behauptet, er hätte zwar das einzig wirksame Mittel dagegen gefunden, aber die anderen verhinderten aus Machtkalkül dessen fachgerechte Anwendung.
Ein bisschen erinnert das an Papst Johannes Paul II, der einst zwar die HIV-Toten beklagte, aber zugleich Kondome als Teufelszeug bewertete.
Pünktlich zum Start des Frühjahrs erscheint die Koalition nahezu so grau und überfordert wie die Union es in Merkels letzten Monaten war.
In Berlin kleben Aktivist/-innen der Letzten Generation die Straßen zu. Das sind die Spielverderber, die sich dickköpfig weigern, die letzten Memos über eine frühlingskonforme Optimismuskampagne aus den Regierungsvierteln beim Wort zu nehmen.
Davor, dass die Letzte Generation weiterhin die medialen und politischen Zeichen an der Wand überlesen könnte, fürchtet man sich im Regierungsviertel. Nahezu jedes Großmedium beschimpft, belehrt oder verunglimpft gerade die Mitglieder der Letzten Generation als Störenfriede, Terroristen, Ökodiktatoren oder Antidemokraten.
Solche Beiträge sind hauptsächlich Ergebnisse einer Kränkung oder Anbiederungsstücke an eine gewisse bräsige Wählerschicht, die man bei den Leitmedien gern schon deswegen textlich umarmt, weil man/frau Medienmensch die selbst bei jeder Familienfeier am Tisch hat. Das war dann keiner fürs Team Klima, sondern der Rant für Onkel Horst.
Vom Kanzler wird kolportiert, dass er sich vor einer Gelbwestenbewegung fürchte, die 2018 Macron ins Schwitzen brachte.
Die Letzte Generation und ihre permanenten Störungsversuche des wackligen Status Quo drohen, je nach Lesart, entweder eine Gelbwestenbewegung aus, um ihre Einkommen besorgten Bürger/-innen zu befeuern oder könnten selbst zum Kern einer solchen werden.
Die dann allerdings statt bezahlbarer Spritpreise für Putzfrauen außerdem eine echte Beschleunigung der Klimakatastrophenabwehr fordern könnte. In beiden Fällen sähen der Kanzler und die Koalition gerade nur sehr bedingt gut aus. Dass die Union und die Blauschlümpfe in ihrer Klimabilanz sogar noch viel schlechter aussähen, ist da nur ein geringer Trost.
Mich unverbesserlichen Realoptimisten erinnert die aktuelle Situation auch gar nicht an die Gelbwesten in Frankreich, vor denen sich der Kanzler fürchtet. Sondern an Beate Klarsfeld und ihre Ohrfeige für Bundeskanzler Kiesinger im November 1968.
Sie warf Kiesinger seine Nazivergangenheit vor, wurde aber nur von radikalen Studenten unterstützt, die man auch damals schon entweder als Störenfriede, Terroristen, Antidemokraten oder Faulpelze beschimpfte. Als Klarsfeld Kiesinger öffentlich ohrfeigte, bildete das den Anfang vom Ende der Adenauer-Bundesrepublik und ihres heimlichen „Don’t ask, don’t tell“-Konsensus in Sachen Nazivergangenheit ihrer Eliten.
Ein Jahr später verlor Kiesinger die Wahl. Willy Brandt wurde Bundeskanzler und bekannte, dass es Zeit sei, mehr Demokratie zu wagen. Jede Sitzblockade der Letzten Generation ist gerade eine neue Ohrfeige an eine zu zögerliche Politik. Die sich nicht traut, mehr Klimaschutz zu wagen.
Obwohl es dafür ebenso wenig eine Alternative gibt wie es für die Benennung und Ausmerzung der Nazitäter aus den Ämtern, Gerichten, Plenarsälen und dem Bundestag gab. Die Geschichte wird der alten Bundesrepublik für die Umsetzung dieser Zeitenwende keine Haltungsspitzennoten verleihen. Aber sie hat durchaus positiv vermerkt, dass die stattfand.
„Haltungsnote: Klatsche auf der Straße“ erschien erstmals im am 30. April 2023 fertiggestellten ePaper LZ 112 der LEIPZIGER ZEITUNG.
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