Dr. Göran Michaelsen ist der Chefarzt der Soteria Suchtklinik in Leipzig-Probstheida, die zum Herzzentrum gehört. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Sozialmedizin, Rehabilitationswesen und Suchtmedizinische Grundversorgung beschäftigt sich seit Jahren mit Sucht und ihren Folgen beziehungsweise ihrer Behandlung. Wir haben mit ihm über Alkoholsucht, Symptome und gesundheitliche Folgen sowie die möglichen Behandlungswege raus aus der Sucht gesprochen.
Herr, Michaelsen, wie geht es Ihnen? Wie läuft der Betrieb nach Corona?
Wir sind noch immer ein wenig belastet von der abklingenden Corona-Pandemie. Es hat viel Arbeit gemacht, den Betrieb währenddessen aufrechtzuerhalten. Das hat uns schon viel Kraft gekostet. Wir mussten uns viele Gedanken machen: Wie setzen wir die Maskenpflicht um? Wie groß können die Therapiegruppen sein? Wir hatten alles durch – vom Besucherstopp über restriktive Arbeitsbedingungen, Tests, Eingangskontrollen, Abstand halten …
Das war natürlich alles neu und ungewohnt für uns. Psychotherapie mit Mundschutz war vorher nicht vorstellbar. Es ist nicht schön, aber es geht, es musste gehen. Doch die Mimik nicht erfassen zu können, hat Auswirkungen auf die Therapie. Man muss unter Umständen mehr nachfragen, sich rückversichern. Die Rücknahme der Maßnahmen vor wenigen Wochen hat nicht unbedingt weniger Aufwand bedeutet.
Wir sind aber froh, dass wir den Betrieb durchgängig aufrechterhalten konnten. Es gab auch Kliniken, die schließen mussten. Zum Glück ist uns das erspart geblieben.
Wie viele Patient/-innen werden im „Normalfall“ bei Ihnen in der Suchtklinik behandelt?
In der Klinik direkt haben wir 154 Plätze. In der Adaptionseinrichtung gibt es 23 Plätze. Während der Corona-Zeit mussten wir auf eine Belegung von 130 Patient/-innen drosseln. Zum einen, weil die Räume die Größe der Gruppen vorgaben und zum anderen, weil wir auch Patientenzimmer freihalten mussten, um Personen, wenn nötig, isolieren zu können. Wir hatten auch Patient/-innen, die bei Absonderung nicht nach Hause konnten oder schlichtweg kein Zuhause hatten.
Was bedeutet Adaption im Suchtbereich?
Das ist eine Besonderheit, die es so woanders nicht gibt. Die Adaption im Suchtbereich meint die zweite Phase der medizinischen Rehabilitation in unserer Adaptionseinrichtung in der Ludwig-Erhard-Straße im Zentrum. Die Adaption beinhaltet zwei Besonderheiten: Zum einen müssen sich die Patient/-innen selbst versorgen, das heißt, sie kochen selbst, kaufen ein, dafür erhalten sie Geld. Zum anderen machen sie auch ein Betriebspraktikum für etwa acht bis zwölf Wochen.
Sonst läuft die Therapie weiter – ein wenig ausgedünnt. Die Einrichtung soll denjenigen helfen, für die der Schritt von der Klinik nach Hause zu groß ist. Alle haben aber ihr eigenes Zimmer, die Adaption ist kein Wohnheim, sondern wirklich eine Rehabilitationseinrichtung. Es gibt dort genauso Krankenpfleger/-innen, Ergotherapeut/-innen, Psycholog/-innen etc. Viele Patient/-innen brauchen diesen Zwischenschritt, bevor es nach Hause, in ein Wohnheim, eine Clean-WG oder woandershin geht.
Welche Arten von Sucht werden in der Soteria Klinik behandelt?
Wir behandeln als Hauptdiagnose Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit. Natürlich beschäftigen wir uns auch mit einer Menge alkohol- und drogenbedingter Folge- und Begleiterkrankungen. Spielsucht behandeln wir als Nebendiagnose. Es gibt auch sogenannte Doppel-Diagnosen, also Patient/-innen, die neben ihrer Sucht noch eine zweite psychiatrische Diagnose haben, meist eine Psychose oder Persönlichkeitsstörung. Sie können bei uns Therapie machen, wenn sie ausreichend therapiefähig sind.
Unsere Klientel hier ist ganz klar: Wir haben hier etwa 70 Prozent Drogenpatient/-innen. Von diesen wiederum sind etwa 80 Prozent abhängig von Methamphetamin, also Crystal Meth. Das liegt teilweise auch an unserem Einzugsgebiet. Früher hing das mit der tschechischen Grenze zusammen, heute kommen diese Substanzen eher aus den Niederlanden.
Trotzdem ist die „Versorgungslage“ statisch geblieben. Auch hängt es davon ab, welcher Kostenträger uns am meisten belegt, das ist in unserem Fall die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland. Also kommen die meisten Patient/-innen auch aus Mitteldeutschland.
Natürlich ist die hohe Zahl an Methamphetaminabhängigen nicht die Realität in der Normalbevölkerung, aber es sind die, die in Behandlung kommen. Bei vielen ist eine Mehrfachabhängigkeit feststellbar.
Wie wichtig stufen Sie die Adaption ein?
Ich versuche, es immer so zu erklären: Niemand wird aus der Entwöhnung geheilt entlassen. Die Therapie erfolgt, grob gesagt, in zwei Phasen: Die Phase eins bei uns in der Klinik, bei einigen vielleicht danach in der Adaptionseinrichtung. In Phase zwei geht es darum, das Gelernte unter ungeschützten Bedingungen zu Hause anzuwenden. Das ist für viele noch mal genauso schwer. Dieser Schritt erfolgt mit Hilfe der ambulanten Therapie, der Nachsorge in den Suchtberatungsstellen oder auch im ambulanten betreuten Wohnen. Deshalb ist die Adaption sehr wichtig.
Ist es für Alkoholsüchtige schwieriger, sich wieder in das „normale“ Leben zu integrieren? Schließlich sind wir im Alltag ständig mit dem Trinken konfrontiert.
Wenn es um die Präsenz im öffentlichen Leben geht, ist die Abstinenz für Alkoholsüchtige sicherlich schwieriger. Einfach, weil es ihn überall gibt. Alkohol- und Tabakkonsum ist in unserer Gesellschaft größtenteils akzeptiert. Es gibt zwar einen generellen Trend hin zu einem gesünderen Lebensstil, davon profitieren wir in der Suchthilfe natürlich, doch es wird immer noch viel zu viel getrunken. Vor allem in Deutschland. Alkohol ist günstig und leicht zu bekommen.
Betrachtet man die vier Säulen der Suchtpolitik, dann ist Restriktion etwas sehr Wichtiges. Es meint nicht ein Komplettverbot, das geht schnell auch nach hinten los. Trotzdem wird nicht genug getan dafür. Warum muss es Alkohol beispielsweise in Läden des täglichen Bedarfs zu kaufen geben? Dafür sehe ich keinen Grund. Das suggeriert zu viel Normalität. Spirituosen sind zu billig. Man muss allerdings aufpassen – ist der Preis zu hoch, fördert das den Schmuggel und Eigenproduktion.
Bei der Prävention sind wir in Deutschland nicht besonders gut – im Verhältnis dazu, wie reich unser Land ist und wie viel Geld unser Gesundheitswesen kostet. Prävention für Kinder und Jugendliche, sodass diese von vornherein möglichst aversiv gegenüber Alkohol und Drogen eingestellt sind, gibt es meiner Meinung nach nicht genug in Deutschland. In anderen Gegenden, Skandinavien beispielsweise, wird das weit mehr betrieben. Die Therapiemöglichkeiten sind in Deutschland aber nicht schlecht.
Wie wird die Chance der Heilung für Personen mit einer Alkoholabhängigkeit eingeschätzt?
Wir wissen es relativ genau. Es hängt von der Art der Behandlung ab. Es gibt durchaus Menschen, die es aus eigener Kraft schaffen. Dieser Anteil ist verschwindend gering. Etwa 0,1 Prozent der Personen, die eine körperliche Entgiftung machen, sind nach vier Jahren noch trocken. Personen, die eine qualifizierte Entgiftung gemacht haben – das meint die körperliche Entgiftung sowie eine Motivationsbehandlung – sind zu ein bis vier Prozent nach vier Jahren noch immer trocken.
Bei den Personen, die eine Entwöhnung mit Psychotherapie, wie wir sie unserem Haus beispielsweise anbieten, gemacht haben, steigt der Anteil derer, die nach vier Jahren noch trocken sind, auf 45 bis 55 Prozent. Für eine chronische Krankheit ist das eine gute Quote. Das liegt daran, dass die körperliche und die qualifizierte Entgiftung in der Regel nur den körperlichen Teil behandeln, der aber das kleinere Problem ist. Die psychische Abhängigkeit muss behandelt werden.
Damit lernen die Betroffenen, die Schwierigkeiten hinter dem Alkohol zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Es wird darauf geschaut: In welchen Situationen bin ich rückfallgefährdet? Wo liegen meine Stärken und Schwächen? Gegen welche Gefühle habe ich angetrunken? Was tut mir gut? Wie achte ich auf mich selbst? Oder oder oder. Natürlich sind die Themen von Mensch zu Mensch verschieden.
Aus medizinischer Sicht betrachtet: Wo beginnt Alkoholismus?
Das ist nicht ganz einfach. Es gibt eine Einteilung: Im Regelfall werden die Menschen abstinent geboren, es gibt wenige Ausnahmen. Dann gibt es den Probierkonsum, den Gelegenheitskonsum, den Gewohnheitskonsum, den Missbrauch und es gibt die Abhängigkeit. Das passiert nicht immer linear, aber in diesen Stufen entwickelt sich die Alkoholsucht oft. Es ist auch schwer, zu sagen: Was ist normal? Es stimmt auf jeden Fall nicht, dass gar kein Alkohol „normal“ ist. Was ist riskant und was ist krankhaft?
Gesunden Alkohol gibt es nicht. Das ist ein Märchen, welches nicht aus der Welt zu schaffen ist. Es gibt das genussvolle Glas Rotwein, das gesunde allerdings nicht. Das ist eine Erfindung.
In den Untersuchungen, die dies zeigen, werden immer wieder zwei Dinge falsch gemacht. Erstens: der Alkohol wird mit einer Krankheit in Zusammenhang gebracht, für die er ausnahmsweise nicht verantwortlich ist. Wenn er eine Sache nicht befördert, dann zum Beispiel mehr Herzinfarkte. Dieser Zusammenhang wird dann ausgenutzt, ohne zu beachten, dass der Alkohol unzählige andere Schäden verursacht.
Der zweite Fehler ist folgender: In den Studien werden Personen, die aus guten Gründen, beispielsweise wegen einer Sucht oder schweren Krankheit keinen Alkohol konsumieren, nicht herausgerechnet. Tut man das, zeigt sich ganz klar: gar kein Alkohol ist am gesündesten. Diese Fehler sind allerdings nicht totzukriegen. Es ist nichts einzuwenden gegen den Genuss für Personen, die gesund sind. Für meine Suchtpatient/-innen gilt das nicht. Sie müssen lernen, anders zu genießen.
Gibt es auch Alkoholkonsum, der in Ordnung ist?
Die Frage nach dem „normalen“ Konsum ist nicht leicht zu beantworten. Man kann sich dem Thema von verschiedenen Seiten nähern. Zum einen über die Menge. Da gilt: 24 Gramm reiner Alkohol ist für Männer die Grenze. Das ist etwa eine Flasche (0,5l) Bier.
Für Frauen ist es eine halbe Flasche, also 12 Gramm. Werden diese Werte regelmäßig überschritten, spricht man vom riskanten Konsum. Das heißt, wer regelmäßig über diese Mengen konsumiert, setzt sich einem Gesundheitsrisiko aus. Das ist noch relativ weit gefasst, noch lange keine Krankheit.
Es geht auch um die Frage: Wie oft trinke ich in der Woche? Es gibt die Empfehlung, an mehr Tagen in der Woche nicht zu trinken, als zu konsumieren. Man spricht auch von der „Vierer-Dreier-Regel“. An vier Tagen in der Woche sollte ich keinen Alkohol konsumieren. Jemand, der an jedem Tag trinkt – auch, wenn es nur wenig ist – sollte sich schon fragen, ob der Verzicht schwerfällt.
Und es ist wichtig, wie viel man in einer Situation trinkt. Auch da kann sich problematisches Verhalten zeigen. Den meisten Menschen schmeckt der Alkohol nach einer bestimmten Menge nicht mehr. Wir verlieren nach einer Weile das Interesse daran. Bei riskantem Konsum funktioniert diese Bremse nicht mehr. Wer einmal im Monat oder häufiger mehr als fünf alkoholische Getränke in einer Situation zu sich nimmt, ist gefährdet.
Für Missbrauch gibt es eine klare Definition: Missbrauch bedeutet, Folgeschäden vom Konsum davonzutragen und dennoch nicht aufzuhören. Diese Folgeschäden können körperlicher, psychischer oder sozialer Natur sein.
Für die Abhängigkeit gibt es sechs Kriterien, von denen nicht alle erfüllt sein müssen. Sie sind in der Internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD) definiert. Auch das erarbeiten wir mit den Patient/-innen. Auch um zu zeigen, dass es nicht „nur“ um starkes Trinken geht. Sind drei der Merkmale erfüllt, ist die Diagnose sicher.
Der Missbrauch ist dort mit einbegriffen, da die Abhängigkeit eine Folge des Missbrauchs ist. Entzugssymptome bei abruptem Trinkstopp sind ein Kriterium – zum Beispiel Zittern, Schwitzen, Unruhe. Weitere Merkmale sind Kontrollverlust über den Konsum, Toleranzentwicklung und ein starkes Verlangen nach Alkohol.
Außerdem, dass sich das Leben immer mehr um das Thema Alkohol dreht. Bei vielen funktioniert Arbeiten noch am längsten, irgendwann aber geht auch das nicht mehr. Der tägliche Konsum ist strenggenommen kein Kriterium. Es gibt viele Personen, die es schaffen, auch mehrere Tage oder Wochen zu verzichten. Sobald aber die kleinste Schwierigkeit auftritt, geht es wieder los.
Welche Therapieangebote haben Sie und wie lange dauert das Entwöhnungsprogramm in Ihrer Klinik in der Regel?
Wir haben fast alle Therapieangebote am Standort: Ambulanz, Entgiftung, Tagesklinik. Nur klassische Suchtberatung machen wir absichtlich nicht. Suchtberatung gehört an die Orte, wo die Menschen wohnen und hingehen können. In der Soteria Klinik führen wir eine stationäre Langzeittherapie durch. Natürlich wäre es schön, wenn es von Zuhause ginge, aber viele Patient/-innen benötigen auch diesen Schutzraum und den Abstand. Eine Klinik wie diese hier ist wie eine Käseglocke.
Wie läuft eine Entwöhnung hier ab?
Ich bin überzeugt davon: Die wichtigste Säule ist die Psychotherapie. Das zugrundeliegende Problem ist fast immer psychischer Art. Es ist eben nicht nur die Gewohnheit. Bei uns gibt es Einzel- und Gruppentherapien sowie Suchtgruppen. Natürlich brauchen die Patient/-innen auch Fachtherapien: Ergo-, Sport-, Musiktherapie – zum Ausgleich und auch als nonverbales Angebot. Manche Personen sind sprachlich nicht so versiert, sie benötigen diese nicht-sprachlichen Angebote, um anzukommen.
Bei uns gibt es auch Arbeitstherapie: Das heißt, dass einige Patient/-innen ein Betriebspraktikum durchführen. Dabei geht es vorrangig darum, zu erkennen: Was geht und was geht nicht? Wie belastbar bin ich oder vielleicht auch nicht? So lernen die Patient/-innen, wie sie fit werden, um wieder arbeiten zu gehen. Es ist wichtig, dass sie Erfahrungen sammeln auf dem Arbeitsmarkt und lernen, sich zu positionieren.
Für viele sind auch Genusstraining und die sinnvolle Freizeitgestaltung ein wichtiges Thema. Weil vorher die Freizeit nur noch aus Alkohol bestand und mit Freunden verbracht wurde, die das Problem verstärkt haben. Dafür sind auch Angehörigengespräche wichtig, also mit der Partnerin oder dem Partner, mit Eltern oder erwachsenen Kindern.
Doch man muss sich auch konkret damit auseinandersetzen, in welchen Situationen man gefährdet ist. Eine wichtige Regel in der Suchtherapie lautet: Ich pflege hilfreiche Kontakte. Da wird es Freunde geben, die nicht mehr trinken werden, wenn die oder der Betroffene dabei ist und die Verständnis für die Situation haben werden. Und dann wird es „Freunde“ geben, die das nicht tun.
Diese Kontakte braucht man nicht. Für viele Patient/-innen ergibt sich dann allerdings eine große Lücke. Wenn dem so ist, hilft vielleicht zunächst die Unterbringung in einer betreuten Wohngruppe. Oder man muss überlegen, wo die Möglichkeit besteht, neue Menschen kennenzulernen. Es ist generell für jede/-n Patient/-in gut, eine Selbsthilfegruppe zu haben, für manche ist es essenziell. Denn dort lernen sie Menschen kennen, die das gleiche Problem und das gleiche Ziel haben.
Sollte das Problem Alkoholismus intensiver bearbeitet werden in der Öffentlichkeit?
Auf jeden Fall. Es sollte mehr dafür getan werden, Gesundheitsbildung mehr in der Gesellschaft zu etablieren. Es sollte verstärkt propagiert werden, dass Alkohol ein Genussmittel ist und etwas Besonderes und dass vor allem nichts fehlt, wenn man keinen trinkt. Da liegt noch viel Arbeit vor uns. Mit Wirtschaft und Lobbyismus als Erklärung ist es zu kurz gedacht.
Das lässt sich gut an der Tabakindustrie erklären: Durch die Behandlung von Tabakabhängigkeit und ihren Folgeerkrankungen entsteht ein großer volkswirtschaftlicher Schaden. Es entstehen Behandlungskosten in Millionenhöhe. Im Gegensatz dazu sind die Einnahmen durch die Tabaksteuer relativ gering. Bei Alkohol ist es ähnlich.
Es geht nicht darum, es den Leuten madig zu machen. Wer Alkohol trinken möchte, soll das tun. Aber es sollte klar sein, dass es nicht gesund ist. Kinder haben ein Recht darauf, gesund aufzuwachsen. Das gehört für mich auch dazu: Dass Suchtmittel keine Rolle spielen im Umgang mit Kindern.
Wie alt sind Ihre Patient/-innen mit Alkoholabhängigkeit im Schnitt?
Das ist sehr unterschiedlich. Grundsätzlich behandeln wir hier alle Menschen im Alter von 18 bis 80 Jahren. Der Schwerpunkt liegt etwa in der Altersgruppe ab 35 Jahren aufwärts. Es gibt natürlich auch jüngere Patient/-innen. Je jünger die Patient/-innen sind, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen legalen und illegalen Drogen.
Der Beginn des erhöhten Trinkens kann in jedem Alter einsetzen. Es gibt immer eine Vorgeschichte, es gibt immer Risikofaktoren, die man mitbringt. Diese können genetischer oder psychosozialer Natur sein. Eine Bereitschaft zur Suchterkrankung ist bis zu einem gewissen Punkt auch angeboren, aber nicht entscheidend. Wir haben auch Patient/-innen, bei denen der regelmäßige Konsum bereits mit 12 Jahren einsetzte. Dann gibt es andere, die erst mit zunehmender beruflicher Belastung anfangen, regelmäßig und übermäßig zu trinken. Manche verkraften eine Scheidung nicht oder den Eintritt in die Rente.
Ein Risikofaktor ist natürlich auch, wenn die Eltern bereits unter Alkoholabhängigkeit litten. Ganz genau kann man das aber nicht sagen. Es ist wie beim Übergewicht: Was wird vererbt – die Gene oder das Kochbuch? So ist es beim Thema Alkohol auch. Es ist wahrscheinlich beides. Ein Elternhaus beispielsweise, in dem ein lockerer und erhöhter Alkoholkonsum präsent war, fördert eher die Neigung dazu, zum Alkohol zu greifen. Man ist nicht in jedem Alter gleich empfindlich für die Entwicklung einer Sucht. Bei Alkohol und Drogen ist zum Beispiel eine sensible Phase dafür im Alter von 10 bis 12 Jahren.
Deshalb ist Prävention so wichtig. Leider kann man nicht jeder Person helfen, aber man kann etwas tun. Ein gutes Beispiel dafür ist eine alte Untersuchung aus Großbritannien: Dort gab es ein Tabak-Präventionsprogramm, das kostete 50 Pfund pro Kind. Das führte dazu, dass später 30 Prozent der Teilnehmenden weniger rauchten. In Deutschland gibt es so etwas nicht. Es ist zum Teil nicht gewollt und es ist auch nicht klar, wer ein solches Projekt bezahlt.
Es macht den Eindruck, als wäre es eine Lücke im Sozialrecht. Kinder müssen lernen, auf sich selbst zu achten, körperlich wie psychisch. Diese Dinge spielen eine zu kleine Rolle in unserer Gesellschaft. Es braucht Aufklärung dafür, aber nicht nur in der Form, dass nur abschreckende Bilder gezeigt werden und stetig wiederholt wird, wie gefährlich Alkohol ist. Gute Prävention funktioniert anders: über Kommunikations- und Streitschlichtertraining, Schulung über Fairness im gegenseitigen Umgang, Mannschaftssport, Singen im Chor oder ein Instrument in einem Orchester und vieles andere mehr.
Trinken Sie Alkohol?
Ja, aber wenig. Meine Arbeit färbt ab. In meiner Gegenwart wird darüber natürlich auch gewitzelt. Irgendwann fragt man sich: Gilt für mich auch, was ich den Patient/-innen erzähle? Beispielsweise habe ich begonnen, durch die Arbeit hier in der Klinik die „Vierer-Dreier-Regel“ anzuwenden. Ich empfehle, sich in gewissen Abständen immer wieder zu überlegen, wie der eigene Umgang mit Genussmitteln ist.
„Dürftige Prävention, gute Therapie: Ab wann wird das ‚Gläschen Wein‘ zur Sucht?“ erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Sucht“ im am 30. April 2023 ersten ePaper LZ 112 der LEIPZIGER ZEITUNG. Der Schwerpunkt wird das Thema in allen denkbaren Facetten behandeln: Alkohol, Drogen, aber auch eher Unbekanntes wie Pornosucht. Und während die Debatte über die Legalisierung von Cannabis läuft, schauen wir zurück auf die Geschichte der Drogen quer durch die Zeitalter.
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