Dass der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) häufig als notorischer Opportunist auftritt, ist leider keine Überraschung. Dass derselbe Ministerpräsident aber den Tag nutzt, an dem in Solingen des Brandanschlags von Rechtsextremisten auf eine türkische Familie am 29. Mai vor 30 Jahren gedacht wurde, um eine Grundgesetzänderung in Sachen Asyl zu fordern und dies faktisch mit der Hetze gegen Asylbewerber/-innen in der Bevölkerung begründet, macht einigermaßen fassungslos.
Schon in der vergangenen Woche forderte Kretschmer in einem Gespräch mit dem „Münchner Merkur“ eine Kürzung der Leistungen für Asylsuchende. Als Begründung gab er an, dass die Leistungen in anderen europäischen Ländern niedriger seien. Darum wollten alle Asylbewerber quer durch Europa nach Deutschland gelangen. Die Binnengrenzen könnten nur dann offenbleiben, wenn hier eine Anpassung stattfände.
Der Sachstand ist: Alleinstehende erwachsene Asylbewerber/-innen erhalten in Deutschland derzeit Leistungen im Wert von 367,00 € im Monat. Der Betrag sinkt bei gemeinsamer Unterbringung oder Wohnung für Paare und Wohngemeinschaften auf je 330 bis 294 Euro. Jugendliche erhalten je nach Alter (14–17) 326 Euro, das verringert sich schrittweise bis auf 249 Euro (für Unter-Sechsjährige).
Offensichtlich ist dem Ministerpräsidenten entgangen, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem Urteil vom 18. Juli 2012 die Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für unzureichend und mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt hat. Daraufhin wurde § 3 AsylbLG 2015 geändert.
Das bedeutet: Kretschmer fordert einen Zustand, der schon 2012 vom BVerG als verfassungswidrig erklärt wurde. Dabei weiß Kretschmer ganz genau, dass es sich bei den Leistungen für Asylbewerber/-innen größtenteils um Sachleistungen handelt. Aber so etwas kümmert einen Michael Kretschmer nicht, solange er auf der AfD-Klaviatur spielen, Bundeskanzler Scholz der „Untätigkeit“ bezichtigen und den Grünen vorwerfen kann, „quer im Stall zu stehen“. Auf dem Rücken der Schwächsten bedient Kretschmer so die Vorurteile der Rechtsnationalisten.
Als ob an Pfingsten der Heilige Geist bewusst den sächsischen Ministerpräsidenten ausgespart hat, legt Kretschmer nach. In einem Interview mit der Tageszeitung DIE WELT (30. Mai 2023) schlägt er die Bildung einer Kommission vor, in der unterschiedliche politische und gesellschaftliche Gruppen vertreten sein sollen. Diese Kommission solle Vorschläge für eine Grundgesetzänderung (Artikel 16), für eine Begrenzung der Migration und eine Kürzung der Sozialleistungen für Asylbewerber/-innen machen.
Als Begründung weist Kretschmer auf wachsende „Spannungen“ und „Frustrationen“ in Deutschland hin. „Das wird nicht gut ausgehen, wenn wir die Dinge so weiterlaufen lassen“, warnt er und setzt noch obendrauf: „Wir stehen vor einem Kollaps.“
Man muss da genau hinhören, um die Ungeheuerlichkeit zu begreifen: Kretschmer begründet seine Forderungen nach massiver Einschränkung des Asylrechtes letztlich mit rechtsextremistischer Hetze und Übergriffen auf Asylunterkünfte und Menschen mit Migrationshintergrund (Spannungen und Frustrationen).
Da werden sich die Rechtsnationalisten von AfD, Dritter Weg und Freies Sachsen die Hände reiben: Wir müssen einfach noch mehr Hass gegen Ausländer und „Asylanten“ schüren, noch mehr Überfälle auf Asylunterkünfte organisieren, noch mehr Landräte und Kommunalpolitiker/-innen auf Versammlungen einschüchtern, dann wird unser Ministerpräsident parieren, alles tun, um den Artikel 16 GG abzuschaffen und den Asylbewerber/-innen das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Soll so der „Kampf“ der CDU gegen die Rechtsnationalisten aussehen? Will Kretschmer so die AfD bei den Wahlen im kommenden Jahr kleinhalten? Nein, wer so agiert wie Kretschmer, stärkt die AfD und gefährdet die Demokratie. Darüber hinaus aber verzerrt Kretschmer die tatsächliche Situation. Denn von einer Dramatik einer Überlastung durch Asylbewerber/-innen kann in Sachsen derzeit keine Rede sein – wohl aber von einer erschreckenden Zunahme von rechtsnationalistischen Aktionen gegen Asylbewerber/-innen und gegen ihre Unterkünfte in Ostdeutschland.
Doch darüber verliert Kretschmer kein Wort – übrigens auch nicht über die vielen Bürger/-innen, und das sind im Freistaat Sachsen Tausende, die sich Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat für Geflüchtete ehrenamtlich engagieren. Sie begleiten die neuen Mitbürger/-innen bei Behördengängen, unterstützen sie bei der Arbeitssuche, geben Deutschunterricht, verbringen mit ihnen viel Zeit und stärken ihnen so das Rückgrat. Sie leisten Entscheidendes zu einem erträglichen Alltag in den Unterkünften und zur Integration der Menschen.
Anstatt dieses ehrenamtliche, zivilgesellschaftliche Engagement anzuerkennen, zu fördern und zu würdigen, heizt Kretschmer bewusst und gezielt Ängste und Vorbehalte gegen Geflüchtete an und verfolgt Maßnahmen, die offensichtlich verfassungswidrig sind. Oder gehört für ihn das Engagement vieler Bürger/-innen für Geflüchtete auch zu den „Anreizen“, die er lieber heute als morgen beseitigen will, damit Asylbewerber nicht „quer durch Europa nach Deutschland“ gelangen?
Und was macht eigentlich Ministerpräsident Kretschmer mit der Tatsache, dass es seit einigen Jahren die Geflüchteten waren und sind, die den Dienstleistungssektor vor dem „Kollaps“ bewahrt haben und bewahren? Wer fährt denn die Pakete bei Amazon, DHL, Hermes aus? Wer bedient in Lokalen und Restaurants? Wer bewahrt die großstädtischen Verkehrsbetriebe vor Ausdünnung von Bus- und Straßenbahnlinien wegen Personalmangels?
Wer auch nur einen Augenblick über das nachdenkt, was Kretschmer in den vergangenen Tagen von sich gegeben hat, der kann über seine politische Geisterfahrt nur erschrecken. Anstatt denen den Rücken zu stärken, die sich vor Ort für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, macht er sich das schändliche Treiben der Rechtsnationalisten zunutze, um seine politische Agenda zu verfolgen.
Da schmilzt in Sachsen die sogenannte Brandmauer zwischen CDU und AfD, Dritter Weg, Freie Sachsen zu einem dünnen Blatt Papier.
Christian Wolff, geboren 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist das langjährige SPD-Mitglied als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er engagiert sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/
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