Hinweis: Im folgenden Text wird es um häusliche Gewalt, Polizei, Jugendhilfe, Alkohol und psychische Krankheiten gehen. Stellen wir uns eine Person namens Jona vor, 15 Jahre alt. Es ist Ostern. Vor kurzem hat Jonas Vater seinen Job verloren. Seitdem trinkt er mehr Alkohol als sonst. Der Vater war schon einige Male gewalttätig.
Ein paar Mal haben die Nachbar*innen die Polizei gerufen. Nie ist es so schlimm, dass die Mutter sichtbare Verletzungen davon trägt. Der Polizei gegenüber sagt die Mutter, dass es keine Probleme gebe und so gibt es keine Konsequenzen.
Jona hat die Nase voll und ist seit einigen Jahren schon mehr mit Freund*innen draußen anstatt zu Hause. Feiertage sind dabei schon immer das Schlimmste: zwar keine Schule, dafür sind aber auch alle Läden geschlossen und die Eltern hängen zu Hause aufeinander.
Die Eltern streiten sich, während Jona nicht zu Hause ist. Im Treppenhaus, als Jona zurückkommt, sind die beiden schon zu hören. Jona kann sich nicht entscheiden, ob einschreiten oder abhauen besser ist und bleibt deshalb auf der Treppe sitzen.
Schließlich rufen Nachbar*innen die Polizei. Die schenken Jona zunächst keine Beachtung, sodass Jona wieder nach draußen geht. Es ist April, nur noch selten Minusgrade nachts. Deshalb überlegt Jona, draußen zu schlafen.
Die Polizei greift Jona schließlich auf der Straße auf. Jona erklärt, warum nach Hause gehen keine Option ist. Die Polizist*innen sind halbwegs gutwillig und hören Jona zu. Die Alternative für Jona ist der Jugendnotdienst (JND). Jona will dorthin nicht, denn Freund*innen waren dort schon und haben erzählt, dass sie es schrecklich fanden. In Notunterkünfte für Wohnungslose kann Jona nicht, denn die sind erst ab 18 Jahren.
Die Polizist*innen kommen schließlich ihrer Pflicht nach und bringen Jona in den JND in Leipzig Grünau. Es ist Donnerstagabend. Es ist klar: Freitag und Montag sind Feiertage, dazwischen Wochenende. Der Allgemeine Sozialdienst (ASD), also das Jugendamt, wird die kommenden vier Tage nicht erreichbar sein.
Gesellschaftliche Normen mit voller Wucht
Jonas Fall ist ausgedacht und stark vereinfacht, aber nicht unwahr. Feiertage können für viele Menschen ein höheres Risiko für Einsamkeit, Gewalt oder erzwungenes Zeitverbringen mit der Kernfamilie bedeuten: Menschen mit psychischen Erkrankungen, Frauen, nicht-binäre Personen, trans* Personen, wohnungslose Personen, diese Liste ließe sich noch weiterführen.
An den Feiertagen kommt die geballte Ladung gesellschaftlicher Normen zusammen – für manche mit voller Wucht in die Fresse. Diese Normen stellen die Kernfamilie gern als Happy Place hin. Für alle, für die sie das nicht ist oder für diejenigen, die keine Kernfamilie haben, bedeuten Feiertage oft genau das Gegenteil.
Die öffentlichen und kollektiven Strukturen, auf die viele Menschen angewiesen sind, bleiben geschlossen. Der Alltag wird unterbrochen, Geschäfte, Jugendtreffs und Bibliotheken haben geschlossen. Menschen ohne Kernfamilie sind noch isolierter als sonst bereits, denn solche Tage werden selten mit Freund*innen verbracht.
Bei anderen Menschen treffen Familienmitglieder aufeinander, die sonst besser in größerer Distanz geblieben wären. Seit den Corona-(Teil-)Lockdowns ist immer bekannter geworden, was Frauenhäuser, Beratungsstellen, feministische Gruppen und Gewalthilfetelefone seit Jahren schon erzählen: An den Feiertagen nimmt die häusliche Gewalt, in den meisten Fällen Gewalt gegen Frauen, zu, auch wenn die Zahlen jährlichen Schwankungen unterliegen.
Ein weiterer Fall
Robin ist 17 Jahre alt und trans*. Zu Ostern fahren er und seine Eltern zu den Großeltern, die ein Haus in Schkeuditz haben. Robin hasst es dort, denn Schkeuditz ist wie ein Dorf: Ostersamstag an der Supermarkt-Kasse wird er von der Nachbarin gefragt, ob er schon OPs gemacht hat.
Die Hälfte seiner Familie spricht ihn mit dem alten Namen und den falschen Pronomen an. Er spürt jeden Blick auf sich, als würden seine Verwandten ihn permanent abscannen, auf der Suche nach geschlechtsspezifischen Merkmalen. Zumindest ist die Zeit vorbei, in der er im Stimmbruch war und vor allem sein Opa sich permanent lustig gemacht hat.
Robin würde seine Familie am liebsten gar nicht mehr sehen. Gleichzeitig hat er seine Eltern lieb. Sie würden es als großen Bruch empfinden, wenn er an den Feiertagen nicht mehr mitkommt.
Hier gibt es auch an Feiertagen Hilfe
In Leipzig sind über die Feiertage die verschiedenen Bereitschaftsdienste und Schutzunterkünfte (über das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen) zu erreichen. Eine unvollständige Liste findet sich hier:
– Ökumenische Telefonseelsorge
– Online Seelsorge
– Psychiatrische Institutsambulanz
– Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen
– Nummer gegen Kummer telefonisch und online für Eltern und Kinder
Es gibt 7 Kommentare
> eine Kritik an der Übervorsichtigkeit
Ja, ganz genau. Es wird von vornherein die kleinst-denkbare Gruppe gesucht, die sich eventuell noch getroffen fühlen könnte, und darauf dann der moralische Kompass geeicht. Was dazu führt, dass man für ein halbes Dutzend Leute pro Jahr (in Sachsen) die Möglichkeit schafft, das Geschlecht im Ausweis zu ändern, für statistisch gesehen wenige Opfer von schlimmen sexuellen Gewaltverbrechen Hinweise vor Ölgemälden mit Liebesszenen anbringt und bei Youtube und anderen Anbietern generell erst mal Schrifteinblendung im Video aktiviert wird, weil es ja auch Gehörlose gibt (0,1 % der Bevölkerung in Industrienationen).
Beide Geschlechter in Wörtern zu nennen genügt nicht mehr, weil mit dem Stern auch diejenigen ein Symbol bekommen, die irgendwo in der Nische dazwischen oder pendelnd leben. Und Alle sollen genau über diese Nische stolpern.
Und da gehts nicht um die Verherrlichung von “Gewalt als persönliches Wachstumsmittel”, sondern um die Aufspaltung der Leute in immer kleinere Gruppen, bis hin zum Ich. Ich, ich, ich. Möchte gesehen werden, möchte ein Wort bekommen, möchte besonders behandelt werden.
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Und das Missverständnis besteht glaube nicht darin, dass “Der Michel” sagen wollte, dass man an Gewalt wachse, sondern das man nach so einer Erfahrung damit leben lernen kann und muss. Die behutsame Käseglocke, die im Gespräch war, bringt für die Anfangszeit der Heilung für solche Betroffenen sicher viel, aber sie kann kein Dauerzustand sein, unter dem dann die ganze Mehrheit der Leute zu leiden hat. Ich, als einzelne, betroffene Person, muss meinen Weg finden, in der Gesellschaft klar zu kommen. Und wenn ich in eine Ausstellung gehe, dann muss ich mir meiner womöglichen Sensibilität bewusst sein und vorher mal googeln, was der Künstler so gemalt hat. Wenn ich dann feststelle, dass opulente gemalte nackte, auch mal liebende Körper nichts für mich sind, dann kann ich nicht in eine Willi-Sitte-Ausstellung gehen. Oder wie ein Freund letztens sagte: “Filme über FSK 12 schaue ich nicht mehr”. Er hat es für sich herausgefunden und sich selbst mit einer Methodik ermächtigt, nicht mehr getriggert zu werden. Finde ich super!
Den ersten Satz dieses Artikels habe ich voran gestellt, da aus der Überschrift nicht hervor geht, um welche konkreten Themen es gehen wird. Es ist auch keine Triggerwarnung, denn Trigger sind funtionieren oft anders und sind sehr viel näher am Alltag. Ich hoffe deshalb für Sie alle, dass es nicht zu schlimm war, den Satz überlesen zu müssen, weil Sie ihn für unnütz halten.
Was ich auch aus den Kommentaren lese, ist eine Kritik an der Übervorsichtigkeit. In den letzten Jahren findet deutlich mehr öffentliche Diskussion über unterschiedlichste Arten von Gewalt statt. Dass sich vor allem jüngere Generationen vorwerfen lassen müssen, sie würden nichts mehr aushalten, ist leider falsch. Zum einen wird man nicht stark durch das Erleben: Gewalt, egal in welcher Form zu erleben, härtet nicht ab. Dazu finden Sie allerorten Beiträge von Menschen, die in diesem Bereich deutlich mehr Expertise haben. Das Erleben von Gewalt hingegen und das Schweigen, das oft über die Gewalt passiert, haben sowohl auf individuelle Lebenswege, als auch auf komplette Gesellschaften negative Auswirkungen. Außerdem ist das Argument, das Gegenüber hätte nicht genug Gewalt erlebt (um ernst genommen werden zu können? oder worum genau geht es?) leider so vielschichtig anwendbar, je nach Perspektive: Das wäre dann der schöne “Opfermarathon”. Zum anderen finden sich Hinweise auf Gewalt in Texten nur, weil Gewalt überhaupt als solche gesehen, anerkannt bzw. überhaupt darüber gesprochen wird. Da wird der Vorwurf leider paradox. So viel von meiner Seite zum Inhalt.
Da sich Ihre Argumentationen aber mehr auf persönlichen Ebenen abspielen, muss ich da ganz klar vom Veröffentlichen von Texten trennen: ob Sie in ihrem Umfeld und wie Sie über erlebte Gewalt sprechen (können), ist eine Frage, die Sie für sich selbst, mit Ihren Mitmenschen durch einfache Fragen oder auch durch Beratungsangebote klären können.
@Michael Freitag
Nun, ich schrieb es ja schon in meinen letzten zwei Sätzen: Es ist wohl besser, wenn ich nicht aus meinem Leben erzähle. Sonst wären Sie und andere womöglich schockiert. Ja, es wäre wirklich schön gewesen, wenn mir das ……… und das ……..und das …. nicht passiert wäre. Eigentlich wäre ich mir sogar ziemlich sicher, dass sie schockiert wären. Sehr sicher.
Es ist so wie mit vielen Sorgsamkeiten unserer Tage: Man spricht für die Anderen obwohl man selbst nicht betroffen ist, weil unterstellt wird, dass diese dies und das nicht aushalten würden oder unbedingt geschont werden wollen.
“Die Verantwortung der Medien?” “Neue Sorgsamkeit”? Ich verachte nicht sorgsames Handeln, diese Methodik geht mir extrem auf den Zeiger. Heutzutage wachsen Kinder unter der Käseglocke zu Butterblümchen heran und nicht zu starken Bäumen.
Wenn diese Übersensibilisierung der Gesellschaft so weitergeht, braucht es jeden Nachmittag 2 Stunden Gruppentherapie, bevor man es wagt, sich die Tagesschau anzuschauen. Oder die Nachrichten werden von Triggerwarnungen nur noch durchsetzt sein.
Interessanterweise haben Sie übrigens nichts zu den anderen von mir erwähnten Beispielen gesagt.
Es passt in die Ecke der Nachbar*innen, Polizist*innen und Freund*innen, dass dann auch die Triggerwarnung vorher kommt. Genau aus dieser Ecke.
Wenn ich als Betroffener einen Artikel anklicke mit einer einschlägigen Titelzeile über schwierige Familien, mit welcher Motivation denn? Doch um zu erfahren, was andere für Erfahrungen gemacht haben, ob es nicht vielleicht die Gleichen sind. Vor wem sollen Medien da jetzt Verantwortung tragen? Den Leuten, die ihren Medienkonsum nicht steuern können oder wollen?
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War die Triggerwarnung vor “Gewalt” in der Willi-Sitte Ausstellung in Halle auch etwas verantwortungsvolles? Ich verachte sowas ebenfalls zutiefst. Hier wird so viel Verantwortung von mir als Leser oder Kunstbetrachter genommen, das es schon an Entmündigung grenzt.
Man muss nicht vor jedem hier veröffentlichtem Artikel eine Triggerwarnung stellen, wenn man lesen und deuten kann. Wer das aber braucht sollte seine Lesehilfe bekommen…
@Der Michel: Ist doch schön, wenn Sie nie von Ihren Eltern verprügelt, nie missbraucht oder anders misshandelt wurden. Nein, ich bin da auch hart gesotten. Aber verwechseln Sie bei Ihrer Verachtung vor dieser Art der (neuen) Sorgsamkeit gegenüber Betroffenen nicht ein wenig zwischen Privatsicht und Verantwortung von Medien?
Vielen Dank für die Triggerwarnung. Wie wäre es, wenn noch ein FSK 18 vorangestellt wird?
Seit diese “Warnungen” geradezu inflationär an jeder Stelle auftauchen, brauch ich längst nicht mehr so viel Baldrian und Psychotherapie wie früher. Danke, dass ihr mich vor jedem möglichen Leid bewahrt.
Nach der polizeilichen Räumung von Lützerath gab es eine Protestdemo in Leipzig. Dabei sprache eine junge Frau und hat uns sehr eindringlich davor gewarnt, dass jetzt etwas gaaaanz, gaaanz Schlimmes erzählt wird. Gott sei Dank gab sie noch ein bisschen Zeit, damit sich sensible Gemüter entfernten konnte. Und dann mussten die Leute, die sich – trotzdem – dieser seelischen Herauforderung stellten, tatsächlich erfahren, dass die Demonstranten in den Lützerather Baumhäusern dort aus dem Fenster kacken mussten, weil die Polizei sie nicht herunterließ. Oh Gott, ich hätte es nicht anhören sollen – konnte drei Tage nicht mehr aufs Klo gehen, ohne dran zu denken.
Oder dieser recht bekannte Podcast zweier junger Frauen, der True-Crime-Geschichten zum Thema hat (Serienkiller usw.). Wenn die nicht von vornherein bei Spotify warnen würden, dass es um – Gewalt!!! – geht, hätte ich es womöglich angehört und mich selbst damit traumatisiert.
Gleichfalls den Gipfel meiner Dankbarkeit erreichen die zwei jungen Männer aus dem Landkreis Leipzig, die im Spotify-Podcast über alle möglichen Dinge berichten und ihren Beitrag über das Alltagsleben einer evangelischen Pfarrerin mit der Warnung versehen, dass nun ein äußerst kontroverses Thema (Religion) kommt und sie daraufhin weisen möchten, dass dies nicht jedem gefallen könnte.
Spätere Beispiele folgen auf Anfrage gern. Muss erst die Märchenbücher meiner Enkel mit Warnungen versehen. Da stehen nämlich furchtbar schlimme Dinge drin.
Ach, wenn ihr wüsstet, was ich in meinem Leben schon erlebt habe. Aber ich erzähle es lieber nicht, weil ich niemanden schockieren möchte 😉