Sie ist kaum mehr präsent in den Köpfen und Herzen vieler Menschen: die dramatische Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu. Seit Jahrhunderten drückt sie der Karwoche ihren Stempel auf und sorgt bis heute dafür, dass an Karfreitag zum Leidwesen mancher Clubveranstalter Vergnügungspartys Einschränkungen unterworfen sind.
Eigentlich gereicht es niemandem zum Vorteil, dass die Szenen vom letzten Zusammensein Jesu mit seinen Anhängern, von Verrat und seiner Gefangennahme, den Verhören vor dem Hohen Rat und dem römischen Statthalter Pilatus und von seiner Kreuzigung aus dem Bewusstsein vieler Menschen und dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden sind.
Denn damit fehlt uns eine paradigmatische Erzählung, in der sich alles widerspiegelt, was das persönliche Leben und die politischen Auseinandersetzungen bestimmt: die eklatanten Widersprüche, in die wir Menschen uns verheddern (das Gute zu wollen, aber das Böse zu befördern), die Machtauseinandersetzungen zwischen sog. Elite und dem Volk, die fließenden Grenzen zwischen Begeisterung und Pogrom, der schmale Grat zwischen Bekenntnis und Verrat, zwischen Empathie und Hass.
Alles wird in der Passionsgeschichte reflektiert – aber nicht, um uns Menschen in die totale Lähmung zu führen – nach dem Motto: Du kannst am Weltgeschehen sowieso nichts ändern. Vielmehr geht es darum, mitten in der Zwangsläufigkeit die Aufbrüche zu mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden, mehr Anerkennung und Menschenwürde zu entdecken, die Jesus zu Lebzeiten angedeutet hat und die mit seiner Auferstehung zur neuen Wirklichkeit werden.
Derzeit erleben wir in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um Klimawandel und die angemessene Positionierung im Ukrainekrieg viel von der Wirklichkeit des Karfreitags vor 2000 Jahren. Da ist es nur ein kleiner Schritt vom „Hosianna“, mit dem einst Jesus als Befreier von aller Bedrückung empfangen wurde, und dem „Kreuzige ihn“, mit dem man sich seiner zu entledigen versuchte.
Da wird auf einmal spürbar: Eine schöpfungsgemäße Lebensweise fordert uns sehr viel mehr ab, als den Müll zu trennen; und Frieden schaffen beinhaltet mehr, als Rüstungsexporte einzuschränken – und schon werden die Grundanliegen, für die man einmal auf die Straße gegangen ist, verraten. Schleichend gerieren die kriegerische Auseinandersetzung zum moralisch zu rechtfertigenden Mittel der Politik und das Beharren auf einer Ressourcen verschleißenden Lebensweise zum legitimen politischen Anliegen.
Die biblische Passionsgeschichte deckt auch schonungslos auf, wie in den Machtzentralen sich niemand die Hände schmutzig machen will: Verantwortlichkeiten werden hin und her geschoben – und letztlich müssen die einfachen Leute die Drecksarbeit machen. Hinter dem „Kreuzige ihn“ der Massen haben sich schon immer die Diktatoren versteckt und lassen sie genau darum aufmarschieren.
Doch der, der ausgeschaltet werden soll, der, von dem sich auch seine Freunde abwenden, bleibt allein, einsam, von Gott und allen guten Geistern verlassen und stirbt.
Tausendfach wiederholt sich dieses Golgatha auch heute noch. Millionenfach übernehmen wir willfährig die Rollen des verbitterten Judas, des feigen Petrus, der ängstlichen Anhänger*innen Jesu, der brutalen Soldateska, der Hohen Priester und des Pilatus.
Aber die Rollen des Verbrechers am Kreuz, der sich dem sterbenden Jesus anvertraut, des römischen Hauptmanns, der nach Vollzug der Exekution zur Erkenntnis gelangt: Jesus ist wirklich der Sohn Gottes gewesen, des Josef von Arimathea, der an sich mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben will, bei dem aber noch der Anstand funktioniert und er Jesus ein würdiges Begräbnis ermöglicht – diese unspektakulären Rollen opportunistischer Überzeugungstäter*innen suchen jedes Jahr neu ihre Spieler*innen.
Nur: Das setzt voraus, dass wir uns gerade in diesen Tagen unserer eigenen Rolle, unserer Verantwortung bewusst werden. Genau dem dienen die Passionsmusiken, die wir gerade Johann Sebastian Bach verdanken.
Seine Matthäus- und Johannespassion wollen nicht einfach ein vergangenes Geschehen nacherzählen und damit die Welt erneut in Gut und Böse einteilen: Da sind die „bösen“ Römer und Juden, die sich eines Unruhestifters und Konkurrenten entledigen wollen, und sich damit gleichzeitig am Religionsstifter des Christentums vergehen – und damit sind alle anderen ihre Opfer.
Dieses Narrativ hat über Jahrhunderte eine fatale Judenfeindschaft befördert und das eigentliche Passionsgeschehen karikiert. Im Gegensatz dazu werden die, die sich in diesen Tagen in die Passionsmusiken Bachs versenken, direkt angesprochen: als am Geschehen direkt Beteiligte, dafür Verantwortliche, aber auch als solche, denen die befreiende Erkenntnis gilt:
Durch dein Gefängnis Gottes Sohn,
muss uns die Freiheit kommen.
Wer sich so erneut und höchst aktuell mit dem Leiden und Sterben Jesu auseinandersetzt, wird spüren: Alles, was uns jetzt tief verunsichert, uns Hoffnung, Zuversicht, Kraft, Liebe raubt, alles, worin wir selbst verstrickt sind und uns an zukünftigem Leben zweifeln lässt, landet nicht im Fiasko unerbittlicher Vergeblichkeit.
Alles kann neu bedacht werden – so wie der Hauptmann es getan hat, wie es Petrus und all die vermochten, die sich zunächst aus dem Staub gemacht und in die Verzweiflung gestürzt hatten. Auch das bedenkt Bach in der Johannespassion mit dem Choral:
O Mensch, mache Richtigkeit,
Gott und Menschen liebe,
stirb darauf ohn alles Leid,
und dich nicht betrübe!
Das ist die Botschaft zwischen Karfreitag und Ostern: in den engen Grenzen von Geburt und Tod an dem Richtigen, Sinnvollen, Menschenwürdigen festhalten, nämlich Gott und den Nächsten lieben, und damit aller Gewalt, aller Menschenverachtung widersprechen.
Zum Blog von Christian Wolff: https://wolff-christian.de
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